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OSKÄR KRAUS
FRANZ BRENTANO
MIT BEITRÄGEN VON CARL STUMPF
UND EDMUND HUSSERL
C. H. BECK MÜNCHEN
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FRANZ BRENTANO
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FRANZ BRENTANO
ZUR KENNTNIS SEINES LEBENS
UND SEINER LEHRE
VON
OSKAR KRAUS
PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT PRAG
MIT BEITRÄGEN
VON
CARL STUMPF und EDMUND HUSSERL
PROFESSOR DER PHILOSOPHIE PROFESSOR DER PHILOSOPHIE
AN DER UNIVERSITÄT BERLIN AN DER UNIVERSITÄT FREIBURG 1. B.
^
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK MÜNCHEN 1919
FRAU EMILIE BRENTANO
IN VEREHRUNG
UND DANKBARKEIT
■MH
VORWORT
IVToch läfst der tobende Krieg keine" Antwort auf
die Frage zu, wann es möglich sein wird, den
gesamten wissenschaftlichen Nachlaß Franz Bren-
tanos und eine ausführliche Geschichte seines
Lebens zu veröffentlichen. Darum möchten die
nachfolgenden Blätter wenigstens einen vorläufigen
Beitrag liefern zur Kenntnis seines Wirkens und
seiner Philosophie. In einer Hinsicht werden sie
ihren Zweck nicht verfehlen: die Erinnerungen,
die Carl Stumpf und Edmund Husserl dem
Andenken ihres Lehrers widmen, legen beredtes
Zeugnis ab ftir die Ersprießlichkeit der Lehr-
methode Brentanos und für die sokratische Kraft
seiner Persönlichkeit. Geheimrat Stumpf weist
auch auf andere bedeutende Forscher hin, die
von Brentano entscheidende Einflüsse erfahren
haben, so insbesondere auf Anton Marty, dessen
Verhältnis zu Brentano ich in einer besonderen
Schrift besprochen habe. Wenn Brentano nichts
anderes geleistet hätte, als solche Männer für
die Philosophie gewonnen und herangezogen zu
haben, er würde in der Geschichte der Philosophie
einen hervorragenden Platz einnehmen. Obgleich
er jedoch durch seine Bücher, durch seine Vor-
lesungen, durch Briefe und Gespräche dem philo-
sophischen Leihen der Gegenwart in mannigfaltiger,
bisher noch allzuwenig gewürdigter Weise seine
VJ VOKWOKT
S|iiiirii ;iiil'L;«'(iriickt li;il. sIjiimI doch die ^'(Mlnahnie,
die iii.-iii x'iiifii Scliid'tcii ('Ii1i4('^('iil)i-;icli1('. weit
liiiitrr jciici' /iiiiick. «Iic iiKiii iiiiiidci- bedeutenden
l\i/,riimii-<>cii i;ri;viiiil»ci- .iii dcii Tii,!;- legte. Dies
(•i-kl;irt /.um Teil .--(■iim' puMi/istisclie Zui-ückhaltung
lind dic^c wirdciiiiii das iiiitnnte]' lant gewordene
Vnriiiicil. did), DiciilaiMj dci- Gegenwart nichts
iiiclir zii saiicii lialx'. Die Absicht der vorliegenden
Schrift i^t CS. /um Slii(hiim Dreiitanos aiiziuegen.
soi'eiii der khMiici-e 'l'eil seines Lebenswerkes vor-
hegt, und s(d'ciii der weitans größere Teil in
hoffenllicli nicht all/uferner Z(Mt der Öffentlich-
keit übersehen werden wird. Demi Bi'entano ist
niclil ein Autor der Vergangenheit, sondern der
Zukunft. In meiner ISkizze habe ich darum vor-
nehirilich auf die Fortbildungen und Neueiimgen hin-
gewi(\sen, die Brentano an veröffentlichten Lehren
vorgenommen hat. und auf einige besonders inter-
essante Probleme, die ihn l)is in sein höchstes
Alter beschäftigt haben. Der ästhetische Reiz der
früheren Schriften Brentanos: der Aufbau scharf-
sinnig ersonnener. in ihrer Schwierigkeit sich inmier
steigernder Einwendungen und ihre Abwehr, die
seine Erörterungen auch in ihrer künstlerischen
Gestaltung als die modernen Sprossen Platonischer
Dialoge erscheinen lassen, ist in seinen Alters-
schriften zurfickgetreten. Seine Diktate, wechsel-
seitig aufeinander bezugnehmend, tragen vielfach
Vorwort VII
den Charakter von Entwürfen und Zusammen-
fassungen von größter Gedrängtheit mit Rück-
verweisungen und andeutenden Schlagworten. Die
vollständige Veröffentlichung dieser Diktate wird
von einer fortlaufenden Reihe erklärender An-
merkungen und darstellender Ausführungen be-
gleitet sein müssen. Brentano war der Meinung,
den Herausgebern seines Nachlasses werde eine
ähnliche Aufgabe zufallen, wie sie Etienne Dumont
und andere gegenüber Bentham erfüllt halx^n. Im
Gegensatze hierzu läßt die durch die Zeitumstänch^
auferlegte Kürze meine Skizze, so sehr sie auf
die Treue des Referates bedacht ist, oft über
bloße Andeutungen nicht hinauskommen. Möge
sie wenigstens verständlich genug sein, um die
Problemstellungen und die Richtung der Lösungs-
versuche ahnen zu lassen.
Es ist mir eine liebe Pflicht, den beiden ()l)en-
genannten Forschern dafür zu danken, daß sie ihre
Erinnerungen mit meiner Abhandlung zu einem
Buche vereinigt haben, das hoffentlich manche
irrige Meinung und manche gehässige Unwahrheit
über unseren gemeinsamen großen liChrer be-
seitigen wird. Nicht mindern Dank schulde ich
Herrn Dr. Johannes Brentano für den Einblick
in die letzten Arbeiten seines Vaters.
Prag, im Sommer 1918.
OSKAR KRxVUS
INHALT
Seitp
1 Hrciitniios puljli/isti.srln' /uiiicklialluii^. Allgeniein«8 zur
( 'liniTiktfrisicnin/; sciiifts Korsclicr- und Ivchrdrange.s ... 1
2. .lugciid \iiiil erste SclirifttMi. Aristotclfs ;il,s L-rstor Lehrer.
Hr(^lltall().s Al>lclmuii>< lU^r zeitgfnüs.sisclicji Philoisophic. Seine
Stellung /.ur pliilü.'^ophiegescliiclitliclien Methode 3
:{. Schrittwci.sc p]niiuizipution von Aristoteles fj
4. lieaciitung der cngliselien Piiiloso[)hie. ^jcin aiigchliclier
„Positivisnuis" 7
ö. Loblüsung von der Kirche. Stvunpi und .Vhuty. Berufung iiach
Wien «
'••V
t\. Engere und weitere vSchuie. (Anmerkung über Höflers Er-
innerungen an „Brentano in Wien") 10
7. Weiter reichender Einfluß als Hegründei- einer l'liiinunieno-
logie des Bewußtseins (^ l'syciiognosie"J und 17
8. als erfolgreicher Widersacher mystisch-spekulativer l'liilo-
sophie lind Erneuerer empirischer Methode. Die J^ehre vr.n
lien vier Phasen ]H
".I. .'\ng(>bl icher „ l'sychologi.smus". Scheidung in deskriptive
und genetische Psychologie. Erstere als \'orausset/.ung einer
characteristica universalis 20
10. Die „P.sychologie vom empirischen Standpunkte" 1874 und ihre
gekürzte Neuauflage („Klassifikation der psychischen Phäno-
mene") sammt den elf neuen Kapiteln des „Anhanges" 1911 21
11. Herichtigungen der lnt(*nsitäts- und UrteiL-^lehre. Martys
Artikel über „subjektlose Sätze" 22
12. Ausbau der Lehre von der intentionalen Beziehung. Leugnung
der „mentalen Inexistcnz". Einführung der Vor.stellungsmodi 25
lli. Erkenntni.stheoretische und logische Bedeutung dieser Neue-
rungen. Die Dreiteihmg der psychischen Beziehungen . . -27
14. „ Nichts anderes als Dinge (Reales) kann zum Objekte gemacht
werden". Bolzanos „Sätze an sich", Meinongs „Objektive",
Martys „Inhalte" als Fiktionen 29
15. Erläuterungen zum Vorigen aus Briefen. Der Begriff des
richtigen Trteils und der richtigen Gemütsbewegung. Ver-
änderungen in Brentanos Syllogistik 'dl
Ui. Anschauung und Begriff. Die Anschauung als die \'or.stellung
von gering.ster Allgemcinlieit. Weder die innere noch die
äußere Anschauung zeigt uns jemals Individuelles. Uuan-
schaulichkeit der absoluten (individuellen) Ortsbestimmungen.
Relativität der temporalen Modi 34
Inhalt TX
Seite
17. Die Unmöglichkeit der Existenz von Universellem. Die Er-
kenntnis der Individualität. Innere Beobachtung und innere
Wahrnehmung '. 37
18. Das Zeitproblem als eines der Zentralprobleme Brentano-
scher Forschung. Die temporalen Yorstellungsmodi als modi
obliqui. Leugnung temporaler Objektsdifferenzen. Deren
Transzendenz. Das Zeitliche und seine Kontinualrelation . 39
19. Die neue Relationslehre. Das Eelative ausnahmslos ein
Reale. Die komparativen Relationen als denominationes mere
extrinsecae 43
20. Der Begriff des Kontinuums. Die Begriffe der Plerose,
Teleiose, des primären und sekundären Kontinuums ... 45
21. Weitere Andeutungen über Brentanos Kontinuitätslehre.
Der Begriff des Zeitlichen zusammenfallend mit dem Begriff
des Dinges 49
22. Das kontinuierlich Viele und das kontinuierlich Vielfache.
Tragweite dieser Unterscheidung für die Psychologie; Zu-
sammenhang mit der Frage nach der Geistigkeit der psych-
ischen Substanz 51
23. Substanz und Akzidenz. Substanzielle Bestimmungen . . 53
24. Die Natur der physischen transzendenten Substanz . . . .54
25. Umgestaltung der Kategorienlehre 56
26. Brentanos Axiomatik. Die Frage der Rückführbarkeit aller
Axiome auf das Kontradiktionsgesetz. Beispiele aus der Fülle
apriorisch-apodiktischer Einsichten 58
27. Die Wertaxiomatik fußend auf Brentanos „Ursprung sittlicher
Erkenntnis". Spätere Ausbildung der Lehre. Die als richtig-
charakterisierten Akte des Liebens, Hassens und Bevorzugens
entspringen aus den Begriffen. Die Ausdrücke „Werte",
„Güter", „Wertverhalte" als sprachliche Fiktionen analog den
„Inhalten", „Objektiven" 61
28. Das höchste praktische Prinzip. Andeutungen über Brentanos
politische Gedanken. Ethik und Metaphysik 64
29. Brentanos Metaphysik. Ablehnung Kants 65
30. Das Gesetz der universellen Notwendigkeit und das Kausaii-
tätsgesetz. Verwendung des Wahrscheinlichkeitskalkuls. Un-
abhängigkeit der Wahrschoiniichkeitsreciinung von dem prin-
cipium rationis sufficientis. Rückfülirung des letzteren auf das
Kontradiktionsgesetz 69
31. Die unmittelbar notwendige erste Ursache. Kontinuierlicher
Verlauf des Urprinzips. Seine Göttlichkeit 73
32. Ausdehnung des Entwicklungsgedankens auf das Universum.
X Inualt
Seite
Das Gesetz der fortschroitendcn unendlichen Entwicklung
des Geistes in dem ]ioreichc von Mannigfaltigkeiten höherer
Ordnung ^6
33. Hinweis auf ]kentano.s juristisch-politische Exkurse. Die Holle
der Freundschaft in seinem Leben 78
ANHANG I:
Erinnerungen an Franz Brentano
von
Carl Stumpf
1. llahilitation 1866. Brentano als Lehrer. Unser "Verkehr in
^Vü^zbu^g und Aschaffenburg 87
2. Vorlesungen, Leben und Wirken 1866 bis 1870 97
3. 1870: Umwandlung seiner religiösen Überzeugungen . . . 108
4. Erlebnisse in Würzburg Herbst 1870 bis Sommer 1873 . . 118
5. Vorlesungen 1870 bis 1873 131
(). Unsere Begegnungen und Beziehungen nach 1873 .... 137
7. Verhältnis Brentanos zu seinen Schülern 143
8. Brentanos dedviktive Gedanken rieh tung und sein Gegensatz
zur Spekulation 1-46
ANHANG II:
Erinnerungen an Franz Brentano
von
Edmund Husserl
1. „Wer mich aus meinen veröffentlichten Werken kennt,
der kennt mich nicht" so hätte Brentano mit dem ihm in
so mancher anderen Beziehimg verwandten Leibniz von sich
sagen können. Daher geben alle Nekrologe, i die auf Grund
bloßer Literaturkenntnis geschrieben wurden, kaum einen
Schatten dessen, was Brentano gewesen und geleistet. Daher
gibt es keine Darstellung der zeitgenössischen Philosophie,*
1 Mir sind folgende Naciirufe und Nekrologe größeren Um-
fange« bekannt: Vossische Zeitung, 19. März 1917, gezeichnet R. S.
Neue Freie Presse, 20. März, gezeichnet St - - g (Sternberg). Beilage der
Vossischen Zeitung vom 25. März 1917 von Dr. Emil Utitz, Professor
in Eostock. Derselbe hat auch einen ausführlichen Artikel in den
Kantstudien XXIl. Bd. veröffentlicht. Das Neue Wiener Journal
brachte: Persönliche Erinnerungen an Franz Brentano von Max Foges
am 20. März. Im Feuilleton der Leipziger Volkszeitung erschien am
5. xVpril (Nr. 80) ein warmer Nachruf von 1. „Dem Andenken Franz
Brentanos" widmete Hermine Cloeter zwei interessante Feuilletons
in der Neuen Freien Presse vom 20. April und 21. April 1917. Für
die „Internationale Rundschau" in Zürich 3,6 schrieb Prof. Dr. E. Mandl
einen Artikel „Aus meinen Erinnerungen an Franz Brentano", worin
uns Brentano in seinem letzten Lebensjahre entgegentritt. Im Almanach
der Wiener Universität (Die feierliche Inauguration des Rektors der
Wiener Universität für das Studienjahr 1917/18, Wien 1917) ist ein
Nekrolog aus der Feder des Philosophieprofessors Adolf Stöhr ent-
halten. Von den Auslassungen, die sich Professor Höf 1er unter dem
Titel „Brentano in Wien" (Süddeutsche Monatshefte Mai 1917) ge-
leistet hat, wird noch die Rede sein. — Den umfangreichsten Nachruf
hat bisher Rudolf Steiner in seinem Buche „Von Seelen rätsein"
Berlin 1917 S. 117 — 196 geschrieben. Steiner ist sich bewußt, daß
Brentano gegen diese Art der Ausbeutung seiner Lehren protestiert
hätte ; von den Mißverständnissen und Entstellungen ganz zu schweigen.
— Eine Brentanonummer der Pädagogischen Monatshefte, 68. Jahrgang,
1918, herausgegeben von Prof. Burger Innsbruck, enthält eine Würdi-
gung Brentanos von Michael Freih. v. Pidoll und die Grabrede
Fr.W. Foersters, die der Größe Brentanos durchaus gerecht werden.
Die „Lebensläufe aus Franken", herausgegebeii von der „Gesellschaft
für fränkische Geschichte", werden im 11. Band eine biographische
Darstellung von Prof. Oarl Stumpf bringen.
- Immerhin sind die erschienenen Schriften Brentanos zahlreicii
genug und von so bedeutendem Einflüsse, daß es aus seiner publi-
Krau8, Franz Breutanu. 1
die auch nur dio wcscntlirhstcn Zü^o wieder^^bt. Brentano
ist dem grossen Publikum als Philosopli nahezu gar niclit,
der weiteren wissenschaftHchen Welt nur zum geringsten
Teile und seiner Scliule nur so weit bekannt, als sie mit
ihm bis zu seinem Tode in innigem Kontakt gebheben ist.
I'rcilicli lialicn wir in eben dieser Tatsache zugleich
einen jener Züge vor uns, die für I>rciirano als Menschen
und als Philosophen gleich charakteristisch sind. Trotz glänzen-
der sciiriftstellerischor (Jaben, für Avelclie seine formvoll-
endeten Vorträge über das „Schlechte als Gegenstand dichte-
rischer Darstellung", über „das Genie", über Sinnespsychologie
nicht minder zeugen als sein entzückendes liätselbuch Anig-
matias, hat er allzeit nicht nach dem Lorbeer eines viel-
gefeierten Autors verlangt, sondern nach der Wahrheit iim
der Wahrheit willen. Wie Demokritos schätzte er eine
einzige Entdeckung höher als die Krone des Perserreiches
und wie Plato war es seiner unverwüstlichen Lehrfreudig-
keit ein gar oft schmerzlich entbehrtes Lebenselement, in
wahrheitsdürstenden Gemütern durch freundschaftliches Zwie-
zistischen Zurückhaltung^ allein nicht erklärt werden kann, warum
die verschiedenen Darstellungen der deutschen Philosophie, was
Brentano anlangt, sämtlich durcliaus unzureichend sind. Schon der
Brentano zugemessene Raum steht in schreiendem Mißverhältnis
zu dem Ausmaße, der anderen Denkern, ja vielen seiner Schüler ge-
widmet ist. Es gibt Bücher, wclclie die „Philosophie der Gegenwart"
behandeln und es docli wagen, Brentano totzuscliweigen. Messer, in
seiner „Geschichte der Pliilosophie von Beginn des 19. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart", bemerkt nicht einmal dort, wo er Schell und
Husserl behandelt, daß sie Schüler Brentanos waren, obgleich sich
diese Denker auch durch Widmungen ihrer Werke als solche bekannt
haben! Külpe, in seiner „Pliilosopliie der Gegenwart in Deutschland",
erwähnt Brentano einmal als Lehrer Husserls und eingangs zugleich
mit Martj', als Vertreter einer Art Positivismus und dies darum, weil
sie angeblich die Philosophie als Psychologie auffassen ! ! In Wahrheit
hat Brentano als Philosophie im höchsten Sinne stets nur die Metaphysik
gelten lassen und die Psychologie nur als jene philosophische Disziplin
betrachtet, welche die fundamentalste Stellung inne hat.
gespräch — diaXeyeiv nannten es die Griechen — die kostbare
Frucht der Erkenntnis zu erzeugen. ^ Was die ursprüngliche
Bedeutung, der erste Sinn des Wortes Philosopliie gewesen
ist, WeisheitsHebe, das ist es, was für Brentano dem eigenen
rieben Sinn und Bedeutung verheh. Sie war von Anbeginn
der Leitstern seines Tuns und Lassens.
2. Franz Brentano entstammt einer der edelsten
Familien Deutschlands;* ihr Name klingt jedem Deutschen
vertraut; aus Goethes Wahrheit und Dichtung kennt jeder
die schöne Maximiliane Laroche, die Freundin Goethes,
deren Gatte Peter Brentano der Großvater des Philosophen
werden sollte, und Groß und Klein liebt Clemens Brentano,
seinen Oheim, auf dessen Knien er den holdesten Märchen
lauschen durfte, die deutsche Poesie ersonnen. Weniger in
weiten Kreisen bekannt als diese Namen und jener seiner
' T'berblickcn wir Brentanos philosophische Schriften, so handelt
es sich außer bei den ersten philosophiegeschichtlichen Arbeiten, der
I'sychologie vom empirischen Standpunkte 1874 und der, durch die
italienische Übersetzung veranlaßten Neuauflage einiger Kapitel 1911
last durchweg um Vorträge bezw. Vortragssammlungen, also um
Gelegenheitsveröffentlichungen. Auch die in Zeitschriften erschienenen
Abhandlungen und Aufsätze verdanken fast durchweg irgendeiner
Aufforderung, einer Kritik, einem Festtage ihre Entstehung. Bei
solcher Gelegenheit griff Brentano aus dem aufgehäuften Stoffe ein
Problem heraus, dessen Lösung ihm gänzlich oder in der Hauptsache
feststand, um nunmehr vornehmlich der Darstellung seine Sorgfalt zu
widmen. Es ist verkehrt, mit Steiner, nach einem anderen Grunde der
schriftstellerischen Zurückhaltung zu suchen, als dem, der einerseits in
der Forscherbegierde, andererseits in der geringen Aufmunterung, die
in der Aufnahme des Gebotenen lag, genügend deutlich offenbar ist.
^ Über den Stammbaum der Brentano vgl. Genealogisches Taschen-
buch der adeligen Häuser 12. Jahrgang 1887, Brunn, und ^.Die Gesamt-
nachkommenscliaft des kurtrierschen Geheimrats PeterAnton Bren-
tano" zusammengestellt von Karl 'Kiefer, Frankfurter Blätter für
Familiengeschichte, Frankfurt a. M. 1909. Vgl. auch den offenen Brief
von Geheimrat Lujo Brentano an Chamberlain in der Frankfurter
Zeitung v. 15. November 1916 (auch Vossische Zeitung v. 16. November
1916 Beilage).
1*
Tanto lirtliiin von Arnim istdcr seines Vaters Cli ristian,
fler als ScIiriftstoUcr in dor katiioliscluin Welt in liolicni An-
solwii stellt. Dieser iiatte in junj^en Jahren die lebhaftesten
piiiiosopiuschen Interessen, und war, wie er in seiner Selbst-
biogra[)hie berichtet, bereits v<jr seinem 17. Lebensjahre zn
oinom System des vollkommenen J3eterminismus ja „Materia-
lismus" <^elan_i;i. ' Freilicli wich diese Aiiscliauun<^ sj)äter
einer durchaus religiösen und katholischen und so wurden
denn auch seine Kinder in diesem (jeiste erzogen. Nach
dem liiilicn Tode des geistvollen Mannes war es seine
Gattin lilmilio, die alles aufbot, \un ihre Kinder in gleichem
Sinne zu leiten.- Merkwürdigerweise wiederholte sich die
Krise des Vaters bei dem Sohne. Um sein 17. Lebensjahr
tauchten die ersten Glaubenszweifel auf. Wie beim Vater
waren sie auch bei ihm durch die Determinismusfrage ver-
ursacht. Er suchte sein Heil in der zeitgenössischen
Philosophie, aber unbefriedigt und abgestoßen, ward er,
gewiß vor allem durch den Einfluß seiner Mutter und katholi-
scher Freunde, dor Kirche gewonnen, der er sich alsbald
mit Begeistening zuwandte und aus freien Stücken als
Priester bestimmte.
Doch .sein philosophischer Forschertrieb war weiter in
ihm lebendig. Konnte er unter den Lebenden keinen Lehrer
finden, der seinen Ansprüchen genügte, so suchte er ihn
in der Vergangenheit und fand ihn in Aristoteles, der
ihm anfänglicli Führer wurde und in dessen Werke er sich
mit k-ongenialem Geiste vertiefte. Gleich in seinem ersten
Buche „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach
Aristoteles" Freibiu-g i. B. 1862 gelang ihm unter dem 13ei-
1 Nach_irelassone roligiüso Scliriftcn von Christian Hreiitano.
MiinclKMi 18Ö4: 1. Bd. p. TX. vgl. 'al lg. deutsche Biographie.
2 Heizvollc Einblicke in diese Jahre, in Brentanos vielseitige;
glänzende Begabung und sein gütiges Her/ g;nviihren die Jugend-
erinnerungen, die seine jüngste Schwester in ilcr obenerwähnten
Brentanfiiiumiiior dor Pädairo<rischeii MonatsheftL" veröfttMitlicht iiut.
falle Trendelen burgs, dem diese Erstlingsschrü't gewidmet
war, die Ableitung der aristotelischen Kategorienlehre. Damals
schon, wie bei Abfassung der zweiten Schrift „Die Psycho-
logie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom vovg
.To»/T<j<os" beherrschte er die aristotelischen Texte in so
vollkommener Weise, daß die Belegstellen ungesucht seiner
Erinnerung zuströmten. Die Methode, die er bei diesen
historischen Arbeiten befolgte, hat er später in eigenen,
noch ungedruckten Abhandlungen dargelegt. Wie der Künstler
einen Torso im Stile und im Geiste seines Meisters ergänzt,
wie Cuvier aus dem Bruchstücke eines Gerippes die Be-
schaffenheit des Tieres abzuleiten vermochte, so betrachtete
Brentano die Teile im Licht des Ganzen, wobei die Voraus-
setzung leitend wurde, daß die Erzeugnisse eines und des-
selben Geistes, wenn auch nicht immer eine logische, so
doch eine psychologische Einheitlichkeit aufweisen müssen.
Um diese Eigentümlichkeiten eines Autors kennen zu lernen,
hielt er es für geboten, sämtliche Leistungen des Betreffen-
den zu studieren, also auch solche, die anderen Gebieten
als den philosophischen angehören. Man habe sich gleichsam
vom Geiste des Autors durchtränken zu lassen. Freilich ist
es auch nötig ihm in seinem Sinne philosophierend entgegen-
zukommen, weshalb nur jemand, der die Probleme und ihre
Behandlungsweise kennt, Geschichte der Philosophie zu
schreiben vermag. Das Studium dessen, was sich bei Vor-
gängern und Nachfolgern findet, ist zur f]rgänzung von
Lücken und zum Verständnis unerläßlich. Indem man sich
aber den Stand des Wissens zur Zeit der Abfassung des
jeweils behandelten Werkes vor Augen hält, wird man die
AVürdigung des Verdienstes eines Schriftstellers und die
Wertung des Wahrheitsgehaltes scharf auseinander zu lialton
1 laben.
Nach diesen Grundsätzen sind nicht nur die eigenen
aristotelischen Schriften Brentanos gearbeitet, auch manche
Werke seiner Schüler sind durch sie charakterisiert. So
Stniii{)fs .lu^^ondschrift.: „Das Vorhältnis dos Platonischon
Gottos zur Ideo des Gutüii" Hallo 1861), die ersten Arboiton
V. Hertlings und andoror.'
H. Es ist nur natürlich, daß Brentano zu der Zeit,
wo er dein Stagiriten als Schülor gegenüberstand, die Kritik
zurückHrängto. Damals war sein ganzer Scharfsinn aufzu-
bieten, Hill <l»>r Schwierigkeiten Herr zu werden, die das
Verständnis boreitoto. Daß ihm hierbei Thomas von Aquino
bedeutende Dienste leistete, liat Brentano nie geleugnet.
Allmählich aber ward sein Auge für die Mängel des aristo-
telischen Systems geschärft und seine Verelirung für den
großen Mann hinderte ihn nicht, dessen unnachsichtlicher
Kritiker zu werden.
Während daher die einen Brentano wegen seiner Be-
wunderung und Dankbarkeit für Aristoteles als Scholastiker
darzustellen lieben, machen ihm andere seine weitgehenden
Abweichungen von diesem, besonders seine reformierte
ürteilslehre und Logik zum Vorwurfe. In der Tat ist es
sonderbar, Brentano als Scholastiker oder Aristoteliker zu
bezeichnen, wo schon die allgemein bekannte Trennung der
Vorstellungsklasse von der Klasse der Urteile, die Feststellung,
daß es neben prädikativen auch einfach thetische („Existential-
urteile") gibt, die entschiedene Verwerfung der halbmateria-
listischen Seelenlehre des Aristoteles, die Lehre von den
obhquen Vorstellungsmodis, die Leugnung der mentalen In-
existenz des Objektes, die Ablehnung der aristotelischen
Formenlehre als einer Fiktion, der Nachweis gewisser Fehler
seiner Syllogistik, und anderes, was bereits in den vor-
liegenden l^ublikationen ausgesprochen ist, jedermann zeigen
1 V. Hertling, De Aristotelis Notione ünius 1864. Materie und
Form und die Definition der Seele bei Aristoteles, 1871. — Arbeiten
der Enkolschüler: Alfred Kastil, Die Frage nach der Erkenntnis
des Guten bei Aristoteles und Thomas von Aquin. ISJÜU. Km i 1 A riet li .
Die metaphysischen Grundlagen der aristotelischen Ethik. VM'.), und
anderes. Oskar Kraus, 'N'euc Stuilion zur aristotelisclien Rhetorik,
insbesondere über das yifo,- sjiibfixuy.öy, Halle 1907.
könnte, daß Brentano sich oft weiter von Aristoteles ent-
fernt, als jene „Modernen", die seine Pliilosaphie als „scho-
lastisch" brandmarken. Noch mehr wird das Lächerliche
dieser Etikettierimg hervortreten, wenn die Abhandlungen
seiner letzten Jahre der Öffentlichkeit vorliegen werden.
Seine wahre Meinung hat Brentano in dem Vorwort zu
seinem 1911 erschienenen Buche „Aristoteles und seine
Weltanschauung" ausgesprochen: „Gewiß ist die Weisheits-
lehre des Aristoteles heute als Ganzes unhaltbar, und manche
Teile erscheinen als vollständig überlebt. Dennoch bin ich
überzeugt, daß man, wenn man sie richtig auffaßt, noch
gegenwärtig durch ihr Studium wahrhaft gefördert werden
kann". — Aus dieser Überzeugung heraus hat sich Brentano
entschlossen, im selben Jahre die Schrift „Aristoteles Lehre
vom Ursprung des menschlichen Geistes" erscheinen zu lassen,
in welcher er eine neue, freilich um mehr als das Dreifache
erweiterte Ausgabe seiner längst vergriffenen Broschüre
„Über den Creatianismus des Aristoteles" darbot. Es war
ihm hierbei hauptsächlich darum zu tun, die seit Zell er
üblichen Entstellungen der aristotelischen Metaphysik und
Gotteslehre noch einmal und mit neuen Argumenten zu be-
kämpfen. Sein wunderbares Gedächtnis, vereint mit der auf-
opferungsvollen Bemühung seiner Gattin ermöglichte es dem
nahezu Erblindeten, diese außerordentliche Arbeit zu leisten.
Mit Brentano ist zweifellos der vollkommenste Kenner
des Aristoteles dahingegangen.
4. Ist es aber verkehrt, Brentano einfach unter die
Aristoteliker einzureihen, so ist es womöglich noch törichter,
ihn zu den „Positivisten" zu zählen. Es ist wohl wahr, daß
Brentano durch Comte und die englischen Philosophen wert-
volle Anregungen erhalten hat. Im Jahre 1869 ließ er im
„Chilianeum" eine Abhandlung über „Auguste Comte und die
positive Philosophie" ei'scheinen. Aber unter „positivem
Geiste" verstand er liierbei nichts anderes als die Nüchtern-
heit besonnener Forschung, die er der entarteten Philoso[)hie
der Scli(;lliii;^'scli<ri iiml I Ic^clsolicn S|)cl^iil;il lorKm cntgegen-
sot/lc, die niic\\ seiner Meinun«^- „iill(;s ül)(;rl)Otcn, was die
aniilo<^cn Stadien einer verkommenen Philosophie im Altertum
und Mittelalter erzeugt haben". Mit J. Stuart Mill stand
P.roiitano eine Zeitlang (187.'^) in reger Korrespondenz üb(;r die
I 'rtfiilsichrei und nur der Tod Mills vereitelte eine Zusammen-
kmifi, zu der ihn der englische Denker nach Avignon ein-
geladen hatt(\ Noch in seinem letzten Lebensjahre studierte
iirentano mit größtem Interesse Thomas Reid und diktierte
berichtende und berichtigende Abhandlungen über seine
Lehre, sowie Darlegungen seines und Clark es Zusammen-
hangs mit Kant. Die nationale Unbefangenheit, ein Erbstück
seiner Familie, hat ihn davor bewahrt, wie Lotze in der
Berücksichtigung ausländischer Philosophie eine Schädigung
deutsclien Denkens zu erblicken. Brentano hat sich eben in
seinem ungestümen Wahrheits- und Freiheitsdrang niemals
in andere Fesseln schlagen lassen als jene, die sein eigenes
Gewissen als Mensch nnd Wahrheitssucher ihm auferlegten.
Keinerlei Autorität vermochte ihn dauernd zu binden.
5. Im Jahre 1870 trat die bedeutendste Wendung in
seinem Leben ein. Sclion früher aufgeta\ichte Zweifel an
gewissen Glaubenssätzen brachen hemnumgslos hervor, als
das vatikanische Konzil das Unfeldbarkeitsdogma verkündete.
Denn in diesem Falle glaubte Brentano auf Grund seiner
Kenntnis der Kirchengeschichte mit aller Sicherheit zu er:
kennen, daß wenigstens ein kirchlicher Glaubenssatz der
W'ahrlieit widerspreche. Nunmehr hielten sich diese Zweifel
für berechtigt, die Schranken der unbedingten Glaubens-
pflicht zu durcldirechen und sich auf alle Fragen zu werfen,
deren Prüfung sie sich bisher versagt hatten. ^
1 Vgl. J\ychologic S. 288.
^ Schon im .Jahre 18G!) hatte Brentano über Auftrag des Hischols
Kette Icr die Denkschrift der deutschen Biscliüfe gegen das Unfehl-
barkeitsdogma verfaßt. Vgl. Vegener, Ketteier und das Vaticanuni.
.leriH 11115.
_ • 9
Das Ergebnis, zu dem Brentano gelangte, ist bekannt.
Er legte 1873 das geistliche Gewand ab und trat zugleich
von dem Extraordinariat zurück, das ihm 1872 verlieben
worden war.i
Auch für seine beiden jungen Schüler bedeutete jener
Wandel den Wendepunkt ihres Lebens: Carl Stumpf verließ
1870 das Seminar und wurde alsbald, 25 Jahre alt, der Nach-
folger seines Lehrers auf dem Würzburger Katheder. Anton
Marty, der bereits die höheren Weihen empfangen hatte,
entschloß sich erst nach einiger Zeit — und ohne jede
persönliche Beeinflussung seitens Brentanos — , der Kirche
und seiner Stellung am Lyceum in Schwyz zu entsagen.
Am 22. Januar 1874 wurde Brentano durch den Minister
Stremayr nach Wien berid^en, wo mit ihm ein neues philo-
sophisches Leben einzog.
Am 22. April 1874 hielt er seine Antrittsvorlesung
an der Wiener Universität „über die Gründe der Entmuti-
gung auf philosophischem Gebiete". Mit Mißtrauen hatten
* Höfler schreibt in seinen „Erinnerun<^en*' (Süddeutsche Monats-
hefte, Mai 1917): „Aus dem Dominikanerorden, in dem er seine philo-
sophische Schulung empfangen hatte, war er aus Anlaß des L'n-
fehlbarkeitsdogmas ausgetreten." Diese Blütenlose von Unrichtig-
keiten ist bezeichnend für die Gewissenhaftigkeit Höflerscher Bericht-
erstattung. Um ähnliche Legenden über den Entwicklungsgang Bren-
tanos zu zerstören, sei noch angemerkt: Nachdeni Brentano 1855 das
kgl. bayerische Gymnasium in Aschaffenburg absolviert und nachher
zwei Semester am dortigen Lyceum gehört hatte, studierte er drcn
Semester an der Universität in München, wo Ernst von Lasaulx Imh-
druck auf ihn machte, hernach je ein Semester an den Universitäten
Würzburg, Berlin (Trendelenburg) und zwei Semester an der Akademie
in Münster, wo or durch Clemens mit der Scholastik bekannt wurde.
Kr promovierte in abscntia in Tübingen am 17. Juli 1862. Nur ganz
kurze Zeit, im Herbst 1862, iiat Brentano im Dominikanerkloster in
Graz geweilt. Erst nach dieser klösterlichen Episode (Verkehr mit
l)enifl(^) .studierte er Tlieologie in Münclien (l)r)llint,'er) und am theo-
logischen Seminar in Würzburg. Am 6. August 1864 wurde er zum
J'riester tjeweiht.
10 ______________
die \\ iciK I iiiiil hutto l)üson(](;rs flio Wiener Studentenschaft
(lif l'.tiiirtiii^ l'rcntanos }iuf<^nnoiiiinon. Man sali in ilim nur
den chcniuli;^en Tlieologcn und lioffte nichts weniger als
fortschrittliche Anschauungen durch ihn vertreten zu sehen. Die
Stud<'iitcns(h;d'1 rüstete sich zu einem wenig freundlichen
Miiipfaugc. Aber die befürchteten Demonstrationen blieben
aus. Machte schon die äußere ^Erscheinung des Philosophen
«■iiu-n uiigcw (")linlich(ii und bedeutenden Eindruck, so verstand
er es gleich nach den ersten Worten, die Hörer zu fesseln,
und als er geendet hatte durchwogte stürmischer Beifall den
Saal. Kr hatte über die Gründe gesprochen, aus welchen
man in so weiten Kreisen der Philosophie mit Mißtrauen
begegnet, und gezeigt, daß und warum dieses Mißtrauen
unberechtigt ist, und indem er das Mißtrauen gegen die
Philosophie in seine Grenze wies, wandelte er das Mißtrauen
gegen den Philosophen alsbald in sein Gegenteil. Und
20 Jahre lang, während welcher er unter wechselnden Um-
ständen, zuerst als ordentlicher Professor und später als
Privatdozent an der AYiener Universität lehrte, bis zu seinem
Scheiden von Wien im Jahre 1895 blieb ihm das Vertrauen
seiner Hörerscliaft bewahrt. Stets las er vor dichtgedrängtem
Auditorium. Es ist allgemein bekannt und jeder kann es
in Brentanos „letzten Wünschen für Österreich" nachlesen,
daß und wie seine rückläufige Karriere mit seiner Ver-
ehelichung zusammenliing, die erst acht Jahre nach seinem
Austritt aus dem Priesterstand erfolgte und von ihm als
Konfessionslosen in Sachsen vollgültig geschlossen worden
\\ar. Dasselbe gilt von den Gründen, die ihn endlich nach
dem Tode der geliebten Gattin bewogen, seiner Lehrtätigkeit
vollständig zu entsagen und aus Osterreich zu scheiden.
M''elchen Verlust dies bedeutete, welche Erfolge Brentano
insbesondere als Lehrer aufzuweisen hatte, geht am klarsten
aus der Zahl und dem Ansehen seiner Schüler hervor.
6. Ähnlich wie von Hegel kann man von seinem Wider-
sacher Brentano sagen, daß unter seinen Schülern alle
11
Schattierungen von der äußersten Rechten bis zur äußersten
Linken vertreten sind: aus seiner katholischen Zeit ragt
sein Vetter, Graf Hertling, der deutsche Reichskanzler, als
konservative Säule hervor und in die Gegenwart herüber;
vergebHch mühte sich dagegen der edle Hermann Schell,
dessen erste philosophische Werke gleichfalls unter seinem Ein-
flüsse standen,! eine vermittelnde Stellung einzunehmen und
den inneren Zwiespalt durch Anschluß an den Modernismus
zu überwinden; desto folgerichtiger schlössen sich Carl
Stumpf und Anton Marty^ ihrem Lehrer an. Der "Wiener
Periode entstammt Franz Hillebrand, dessen experimentelle
Arbeiten zur Sinnespsychologie rühmlichst bekannt sind und
der in früheren Jahren die logischen Reformen Brentanos treff-
lich ausgebaut hat. ^ Freimütig anerkennt EdmundHusserl,
einer der erfolgreichsten akademischen Lehrer Deutschlands,
wie viel er Brentanos Kollegien zu danken habe, imd un-
verkennbar reichlich hat Alexius Meinong, das bekannte
Haupt der Grazer Schule, und sein Anhänger Alois Höfler,
Professor der Pädagogik in Wien, aus diesen geschöpft. Wie
Hillebrand verfügt auch Meinong über ein Institut für
experimentelle Psychologie, das Brentano schon 1874 ver-
geblich für die Wiener Lehrkanzel verlangt hatte. Auch
Christian Freiherr von Ehrenfels, Professor in Prag,
ist hier zu nennen, der allerdings in seinen werttheoretischen
Untersuchungen von Meinong beeinflußt ist und auch bei
seinen Spekulationen über die Weltschüpfung sicli in ent-
* Hermann Schell: Die Einheit des Seelenlebens aus den Prin-
zipien der aristotelischen Philosophie entwickelt, Freiburg i. B. 1873:
vgl. über Schell Schnitzer, Der katholische Modernismus in Zeit-
schrift für Politik V. Band 1912 und von kirchlicher Seite Kiefl:
Die Stellung der Kirche zur Theologie von Hermann Schell.
2 Oskar Kraus: Anton Marty, sein Leben und seine Werke,
Ealle 1916 (auch als Einleitung au den Gesammelten Schriften Martys,
I. Bd., erscliicnen).
'Franz Hillebrand: Die neuen Theorien der kategorischen
Schlüsse, Wien 18Ü1.
Mii
12
sfliicdcnstcin (Je^ensatze zu iicv von Brentano vertretenen
Lehre bewegt. DiesQ leiste ist übri^rens weit davon ent-
fernt, vollstündi<( zu s<'in. Männer, wie Sektionschef Michael
Freiherr von J'idoll, J'rofessor Carl Clemens Kreibig,
Professor Emil Arleth, Xor])ert Seliwaiger, Professor
Twardowski in Lemberg, Alfred Berger imd viele andere
haben mehr oder minder dauernde Einflüsse von Brentanos
Lehrtätigkeit erfahren. Durch Marty sind von Prag aus eine
Reihe jüngerer akademischer Lehrer der })hiloso[)hischen Rich-
tung l^rentanos zugeführt worden, wie die Professoren Alfred
Kastil in Innsbruck, Josef Eisenmeier in Prag, Emil
(titz in Rostock und andere, die als Privatgelehrtei wirken.
Wie angedeutet sind von den Genannten gar manche,
die einen früher, die andern später von lirentano abgezweigt
und haben die einen mehr, die andern weniger versucht,
auf eigenen Wegen vorzudringen. Niemals aber haben sach-
hche Differenzen Brentanos Freundscliaft und wohlwollendes
Interesse herabzumindern vermocht ; in unermüdlicher Geduld
war er stets bei-eit, mündlich und schriftlich Einwendungen
zu berücksichtigen, Fragen zu beantworten, freilich auch
seinerseits scharfe Kritik' zu üben. Mit gar wenigen Aus-
nalimen — ich meine vornehmlich Meinong und Hofier —
standen daher die ehemaligen Schüler bis zu seinem Tode
in freundschaftlichem Verkehr mit dem Meister.
In dem oben erwähnten Artikel hat denn auch Hofier die GelegenT
heit ergriffen, an Stelle eines guten Nachrufes eine üble Nachrede zu
.s('tzen. Die Tatsache, „daß in zahlreichen Nachrufen auf Brentano nur
die Lichtseiten seines Wesens zum Aufleuchten kommen-, sclireibt er
teils dem zurückhaltenden Einflüsse des Satzes „de mortuis nil nisi bene"
zu, teils einem Glänze der Persönlichkeit, der so blendete, daß er ,ein
positives, nicht nur (!) ein negatives Nachbild hinterließ". Daß ein wohl-
1 So z. B. Hugo Bergmann: L'ntersuchungen zum Problem
der Kvidenz der innorn Wahrnelimung. Halle 1908. Das philosophische
Work Bernard Bolzanos, Hallo 1909. Benno Urbach: Leibnizens
Uechtfertigung des Übels in der besten Welt, Prag 1901. Oskar
Lngläuder: Die Erkenntnis des sittlich Riclitigon und die National-
ökonomie. vSchmollers Jahrb. 1914.
13
gebildetes geistiges Auge, wenn es lange an einer so hervorleuclitenden
Erscheinung, wie die Brentanos, gehaftet hat, die .„negativen Nach-
bilder" im Wettstreite mit den positiven verschwinden läßt, zu dieser
Erfahrung scheint Professor Hüflers „Psycliologie" noch nicht vor-
gedrungen zu sein und das seine jedenfalls hat die abnorme Neigung,
das negative Nachbild selbst bei einem Manne zu bevorzugen, dem
er als seinem ersten Lehrer in philosophischen Dingen „aufrichtige
und bis heute nicht geschwundene Dankbarkeit*, ja „ewige Dankbar-
keit" zu schxddon bekennt. So zum Beispiel gesteht er wolü. daß es
leicht wurde, „über dem inhaltlichen Reichtum" der Vorlesungen
Brentanos kleine Äußerlichkeiten der Vortragsweise, „die manche
blendeten, andere abstießen", einfach zu vergessen, aber Höflers
geistigem Auge drängt sich die Erinnerung an sie auch noch nach
einem Menschenalter unvergessen auf. Oder er rühmt wohl die
intellektuelle Befriedigung, welche die einleuchtende Lösung der
„auf das feimste zugespitzten Schwierigkeiten" philosophischer Pro-
bleme ihm und anderen Seminarmitgliedern gewährte, er kann aber
doch nicht umhin, bei der witzelnden Kritik irgend eines „stud. phil.",
der Lehrer „gehe den Problemen hinterrücks zuleibe", mit Behagen
zu verweilen. Bei der Schilderung des Eindrucks, den Brentanos
Erscheinung und Gehaben auf die Wiener Gesellschaft gemacht hat,
wird eine Novelle Adolf Wilbrandts ausgegraben; nicht etwa, um
dagegen zu protestieren, daß jemand in dem sonderbaren „Helden-
jener Geschichte auch nur einen wesentlichen Charakterzug Bren-
tanos dargestellt sehen wollte, vielmehr im Gegenteil, um die bos-
hafte Unwahrheit zu wagen, „daß Wilbrandt im Namen der ganzen
Wiener Gesellschaft gesprochen habe". Ich verzichte darauf, micli
auf Erhebungen zu berufen, die ich in dieser Sache gepflogen habe,
sondern begnüge mich hier mit den folgenden Bemerkungen.
Der „Gast vom Abendstern" — nicht „aus dem Abendstern-,
wie Höfler zitiert, denn er gleicht einem Fremdling, der vom
wirklichen Abendstern herabkommt und nicht aus dem Wirtshaus
„Zum Abendstern" -— wird von Wilbrandt geschildert „als der schmal-
gewordene Schatten eines edlen Uhristus", als der „Versuch eines
schönen ]\lannes", der, aus einer fremden Welt stammend, der irdisciien
abgekehrt bleibt und daher unfähig ist, eine schöne, edle, dem Leben
zugewandte Frau, die den Philosophieprofessor und ehemaligen Gei.st-
liclien Hamann mehr aus Mitleid und Herzensgüte als aus Zuneigung
heiratet, zu beglücken. Von einem anderen schon frülicr geliebt, dcMi
.sie in dieser unglücklichen Ehe selbst lieben lernt, versinkt .sit> in
den Wellen des Meeres, während sie dcMi ungeliot)teu Mann tü<li's
freudig vom Frtrinkungstode rettet. —
14 ____________
Nicht ein riri/.i;^cr w csr n t I i c li c r Zu^^ 'iiT lOr/.iililim^ iiml der
('liiirakt(>r/.t'icliMuii^' ist dotn li('b(>n Hrontanos eiitiionirncri. Jch will
riiclit l)('i <lor Symhidik vcrwcilon, die Hiunann als farlxuiblind dar-
st(dlt, williriMid lirentnno das ciiij)fän^liclist(' und rarhonlioudigste
Maloraugo bcs(\ss('n hat uiui auch das Loben selbst und die Welt
durchaus nicht griiii in grau, sondern als die künstlerische Offenbarung
dos göttliciu'ii 1 )iiniiirgon zu sehen gewohnt war. Wilbrandt schildert
seinen erdfrcnnlcn (last als Schwächling. Er lälit ihn seinen L'berrock
[icliincri und ^orgfültig/uknüjifcii. um s(;ine zarte (J estalt gegen den Wind
zu schützen, im Winter des. Jahres lH74ging Brentano nacli übe rstandenen
scliw.irzcn Hlatterii in dem l'.elvederegarten spazieren, mit offenem
l'elze. unter dem er nichts als Hose und Hemd trug. Als Sechziger
durchöchwamiii er die hcmau lui Sclnhihiilicl. Ich selb.st sah ihn im
hohem Alter, auf das dürftigste bekleidet, im Ciarten arbeiten. Weit
entfernt, zaghaft zu sein, liebte Brentano kühne, ]a waghalsige Unter-
nehmungen: auf einer solchen hätte er beinahe im Jahre 1890 durch
nächtliches Kentern seines Fahrzeuges, eines einfachen Fischerkahnes,
auf der Fahrt Schönbühel — Wien, sein Leben eingebüßt. Wie das
Gegenteil (üiu^s körperlichen Schwächlings war Brentano auch aller
mystischen Philosophie abgeneigt. Wilbrandt drückt aber schon durch
den Namen Hamann aus, daß sein Held der Mystik huldigt. Für
Brentano war die; Philosophie der Mystik der tiefste A'erfall des
philosophischen Denkens. Nicht nur sein Vortrag über Plotin beweist
dies. Wilbrandt spricht von Hamanns „poetisierender, nicht rein
wissenschaftlicher Richtung" als einer viel bespöttelten. Aber Brentano
hat den Grundsatz naturwissenschaftlicher Methode schon im Jahre 1866
verkündet und von Höfler selbst hören wir, daß er in Brentano den
ersten Lehrer gefunden habe, der ihn im philosophischen Denken ebenso
strenge Maßstäbe anzulegen anwies, wie in mathematischen und
physikalischen Wissenschaften. Höfler erzählt uns von den „vielen-
Dozenten, Lehrern und in anderen Berufen »Stc^licnden", die „neben
Hunderten von Schülern" sich um Brentanos Katheder schaarten. Ist
es also nicht eine offenkundige Unwahrheit, daß Wilbrandt „im Namen
der ganzen Wiener Gesellschaft" gesprochen habe? Wahr ist nur das
eine, daß Wilbrandt äußerliche Züge aus dem Leben und der Gestalt
Brentanos entlehnte, um über sie ebenso hemmungslos zu phantasieren,
wie über jene Fraucngestalt, die den Widerpart Hamanns bildet. In
jenem Teil der „Wiener Gesellschaft", den man den Wiener Salon
zu nennen pflegte und der nichts als solche Äußerlichkeiten erfassen
konnte, mochte dieses Verfahren jenes pseudoästhetische Vergnügen
ausgelöst haben, das Ari.stoteles als die Freud(> des Wiedererkcnnens
ÖTi ovTog sHstroi bezeichnet.
15
In dieser Welt allerdings war Brentano ein Fremdling, da ihre
diesseitige Lebensauffassung der seinen durcliaus entgegengesetzt war.
Wie sehr übrigens Brentanos erste Frau ihn liebte, ja vergötterte, wissen
alle, die sie kannten. Ihre Briefe an Marty, den Freund ihres Gatten,
sind in unseren Händen. Und seine zweite Frau schrieb mir, Witwe
geworden: „Was wir verloren haben, war ein Schatz an Güte, Menschen-
liebe, Tugend und Weissen, fast zu groß für diese Welt." Und wie
spiegelt sich dieser Mann in Wilbrandts Novelle? „Ein Schatten ist
er; alles, was er sagt, alles, was er tut, alles nur ein Schatten." —
In Wahrheit ist nicht ein Schatten von Brentanos Wesen in diesem
blutleeren Gespenst wiederzufinden. Wohl aber zeigt sich das wahre
Antlitz des „wehmutvollen, dankbaren" Schülers, der dieses Phantom
als wohlgelungenes Porträt ausgibt.
Aber nicht genug! AVo Höfler Brentanos Lehre vom Göttlichen
berührt, in deren wissenschaftlicher Begründung Brentano mit
Leibniz das höchste Ziel der Metaphysik erblickte und deren Verkennung
ihm niclit nur ein Zeichen mangelnden philosopiiisclien Sinnes zu
sein schien, sondern stets ein Gefülil mitleidigen Bedauerns für den
dieser höchsten Erkenntnisse Beraubten hervorrief, da berichtet der
„dankbare Schüler", daß jeder Gedanke an Schopenliauer, „diesen
Leugner des maker, bei Brentano Zeichen des Absehens erweckt habe,
die uns schier an gewisse lustige Zeichnungen des Wilhelm Busch er-
innerten". Nachdem Höfler auf diese Weise die Gestalt des toten
Lehrers zur Karikatur herabgewürdigt hat, gelobt er, wenn die Leser
es so wünschen sollten, „übers Jahr", „wenn die Wehmut (!) verschmerzt
ist", „wenn das Grab nicht mehr dunkel, sondern wieder begrünt ist" —
dem Lichtbilde den Schatten beizufügen. Übers Jalir also wird die
traurige Gestalt Höflers, dessen Auge nicht imstande ist, ein Lichte
bild von einer Karikatur zu unterscheiden, wieder auftauchen, um
in „ewiger Dankbarkeit" den frisch begrünten Rasen mit noch grünerem
Gifte zu besprengen. „Wodurch Brentano so viel Bewunderung und
so viel Haß erregt hat", das soll der Leser erst dann vollständig er-
fahren. Wodurch er sich aber den Ingrimm Höflers zugezogen hat,
das wird uns jetzt schon verraten: ein amtliches Gutachten Martys
über die unter Mitwirkung Meinongs von Höfler verfaßte Logik habe
das Tischtuch zwischen diesen beiden und Brentano zerschnitten.
Brentano wird also für ein Schriftstück verantwortlich gemacht, das
nicht er, sondern Marty verfaßt hat und das er für den Gebrauch der
Unterrichtsbehörde, keinesfalls aber für den Mißbrauch durch Höfler
bestimmt glaubte. Hierbei soll das „seltsame Wort" : „Höfler hat sicli.
«lurch Meinong verführt, eines Abfalles von der richtigen Lehre
schuldig gemacht" der Stein des Anstoßes gewesen sein. —
Hi _ __
I i.i ich im NiicIihiHsc Miirt ys jcin'S Scliiiftstück vort^ofiinilcMi habe,
•so kann ich vcr.sichurn. diiU von ,,\'crl'üliriMif;'* und „vorsfhiilchitoni
Ahl'alle" darin nicht die lieilc ist. Wold ahcr bemängelt Marty, ^daU
di(' Verfasser dos Ijelirbuche.s von l ntcrsuchungen Brentanos Gebrauch
machen. di(' bishor bloß CIcgcnstand mündlicher Vorlesungen gowosen
od(>r privater Mitteilung waren, obwolil das iiehrbuch eine solclie
C^)nelle nirgends angibt".
Niclit nur also, wer an ilem „zerschnittenen Tischtuch'* vordem
als freigebiger Wirt und wer als Kcstgänger gesessen hat, sehen wir
ileutlich, snndcrn auch, daß jene Hand es zerschnitten hat, die soeben
niK'li von ilciii Aufgetischten reichlich davongetragen hatte.
Wie es aber mit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Behauptung
bestellt ist. Brentano habe last alle reifgewordenen Schüler eines Ab-
falK's von <ler richtigen Lehre „sclmldig" befunden und wohl auch
über persönlichen l'iidank klagen zu müssen geglaubt, ist aus der
Tatsache zu erseht'ii, dalj nahezu sämtliche Schüler mit Ausnahme
von Meinong und Hijfler mit Brentano im Verkehre blieben, obgleich
sie sich in maimigfachem Gegensatz zu diesen oder jenen Lehrsätzen
Brentanos befanden und ernste Auseijiandersetzungen hierüber nicht aus-
geblieben sind. Es ist aber eine maßlose und gehässige Übertreibung,
ihn als einen Großinquisitor hinzustellen, der jeden, der nicht ziir
„C>rthodoxie'' gehörte, in Acht und Bann tat. und unwürdig ist es,
auch andere dazu zu verführen, ihn „orthodoxer Ketzerrichterei" zu
beschuldigen, wiedies dem Grazer Kreise bei Dr.Österreichgelungen
ist, der in der Deutschen Literaturzeitung vom 26. Juli 1913 in einer
Anzeige Meinongscher Schriften diesen Vorwurf erhebt, ohne auch
nur den geringsten Beweis hierfür zur Verfügung zu haben und
haben zu können.
W^ahr ist, daß Brentano an einer Stelle seines LFrsprungs sitt-
licher Erkenntnis (S. 8-lr), ohne Meinong zu nennen, dessen Lehre von '
den „evidenten Vermutungen** für widersinnig erklärt und das Be-
dauern ausgesprochen hat. daß Vorlesungen aus der Zeit, da er noch
Überzeugungsgrade für ürteilsintensitäten hielt, zu solchen Ver-
irrungen den Anlaß gegeben zu haben scheinen. Meinong benützte
hierauf eine Rezension über Kries in den Göttinger Gelehrten An-
zeigen 1890 zu lnihnischen .Ausfällen gegen Brentano, dem er die Grund-
lagen seiner Stellung und seines geistigen Besitzes zu danken hatte.
So tiefgehend mitunter die Verschiedenheiten sind, die
zwischen Brentanos Lehren und jenen seiner Schüler be-
stehen, so ist die Kigenart des Brentanoschen Denkens
dennoch so staik, daß jedem, der durch seine Schule ge-
17
gangen ist, ein unauslöschlicher Zug aufgeprägt ist, der es
dem Kenner Brentanos ermöglicht, diesen" character in-
delebili.s auch in Arbeiten solcher Schüler wiederzuerkennen,
die das übernommene Lehrgut mannigfaclien Umgestaltungen
unterzogen liaben. Noch leichter ist dies selbstverständlich
bei jenen der Fall, die selbst an Lehren festhalten, die
Brentano inzwischen als irrig erkannt und in unablässiger
Selbstkritik verlassen hat, was nicht selten und in höchst
wichtigen Fragen geschehen ist.
7. Mit dem Einflüsse Brentanos auf seine engere und
weitere Schule ist jedoch seine Einwirkung auf die philo-
sophische Forschung und das Geistesleben der Gegenwart
bei weitem nicht erschöpft. Die Grundgedanken seiner
deskriptiven Psychologie, das ist einer Phänomenologie des
Bewußtseins, haben alle Psychologen und Erkenntnistheo-
retiker gen()tigt, zu Brentano Stellung zu nehmen, sie mögen
seinen Namen nennen oder nicht. Seine Forschungen zur
Philosophiegeschichte gehören zu den klassischen Erzeug-
nissen der Literatur. Eine ersprießUche Untersuchung auf
irgendeinem dieser Gebiete ohne sorgfältige Berücksichtigung
der Arbeiten Brentanos ist schlecliterdings ausgeschlossen.
Dabei müssen wir sagen, daß seine Leistungen ihrem
vollen Einflüsse und Werte nach einfach aus dem Grunde
noch nicht geschätzt werden konnten, weil sie, wie erwähnt,
nur zum geringsten Teile veröffentlicht sind, und Brentanos
Anteil an den Publikationen seiner Schüler bisher
nicht kontrolliert werden konnte. In Florenz, in Zürich, in
Schönbühel ruhen ungezählte Manuskrijjte und Kollegien-
hefte, mit deren Herausgabe erst ein Überblick über die
schriftstellerische Tätigkeit Brentanos wird gewonnen werden
können. Und die Zeit wird immer reifer werden, den
Wert dieser Philosopliie zu würdigen, je deuthcher sich
die Fruchtbarkeit dessen erweisen wird, was heute schon
von Brentanoschem J^ehrgute unter seiner oder luiter
falscher Flagge segelt und je mein- die Hochflut unserer
Kraus Franz. Brentaiii) '—
18 __=___-
philosophisciien Ubergangsperiodo sic-li verlaufen haben
wird.
K. Ks war Ijiciitanos Überzeugung, dal.» wir in einer
Übergangszeit leben. In .seinem bei (Jotta erscliienencn Yoj-
trage „Die vier Pliasen der Pliilosophic und ihr augenbhck-
licher Stand", mit welchem Brentano im Jahre 1895 von
seinen Wienern Abschied nahm, hat der Philosoph dargelegt,
wie nicht nur im Altertum und Mittelalter, sondern auch in
der Neuzeit eine aufstrebende Blütezeit philosophischen
Forscheus durch drei absteigende Stufen verfallender Pro-
duktion ahgelrist wurde: das erste Yerfallsstadium ist ge-
kennzeichnet durch Abnahme des theoretischen Interesses
und Vorwiegen ])raktischer, meist populär aufklärerischer
Bestrebungen: so die Epikuräer und Stoiker im Altertum,
die auf Plato und Aristoteles, die Aufklärungsphilosophie
des 18. Jahrhunderts, die auf Locke, Cartesius und Leibniz
folgte. Das zweite Stadium des Niedergangs ist jenes, in
welchem der Zweifel als natürliche seelische Reaktion den
doirmatischen Schhunmer stört, in der Neuzeit besonders
energisch vertreten durch David Hume. Endlich ein drittes,
mystisches Stadium, in welchem der durch die Skepsis un-
befriedigte Menschengeist zu willkürlichen imd unnatürlichen
Mitteln greift, um in den Besitz der erhabensten Ws.hr-
heiten zu gelangen; im Altertum folgte auf die Skepsis die
mystische Schule der Neupythagoräer und Neu})latoniker,
die sich mit dem mystischen Geiste des Judentums ver-
mählte, im Mittelalter zogen nominal istische Tendenzen eine
ausgesprochen mystische Phase nach sich, in der Neuzeit
wui'de Hume durch die spekulative Epoche abgelöst, die mit
Kants Willkürlichkeiten anhebt, um in Hegel, Fichte und
Schelling ihren Höhepunkt oder vielmehr ihren wissenschaft-
lichen Tiefstand zu erreichen. i Durch sie wurde die Philo-
> Einige naheliegende Einwendungen gegen diese Anschauung
hat Marty im Anhange zu seinen Untersuchungen zur Grundlegung
der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie I abgewehrt.
19
Sophie zum Gespötte der Naturwissenschaft. Ihrer Uninethode
setzte Brentano bereits anläßlich seiner Habilitation im Jahre
1866 die damals höchst anstößige These entgegen: vera philo-
sopliiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est. Die
wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der
Naturwissenschaften. „Diese These und was damit zusammen-
hängt", schrieb im Jahre 1892 Stmnpf an Brentano, „war
es auch, die Marty imd mich mit Begeisterimg an Ihre
Fahne fesselte." — Um diese Fahne werden sich allmählich
alle jene scharen, welche die Philosopliie aus einem Tummel-
l)latz phantastischer Spekulation zu einer Stätte wissenschaft-
licher Forschung machen wollen. Dieses Verdienst Brentanos
allgemein anzuerkennen ist man freilich auch heute noch
in eben dem Maße entfernt, als man in der spekiilativen
Epoche die klassische Zeit der deutschen Philosophie zu er-
blicken gewohnt ist, ja als man überall in germanischen
und romanischen Landen eine Nachblüte jener Pseudo-
wissenschaft als Neuhegelianismus, Neufichteanismus vmd
dergleichen üppig \\-uchern sieht.
So gering schätzt Brentano die wissenschaftliche Be-
deutung dieser Männer ein — von ihrer kulturhistorischen und
nationalen ist hier nicht die Rede — , daß er es als methodischen
Grundsatz empfiehlt, beim Studium und bei der Darstelhmg der
Philosophiegeschichte, die vor allem Problemge schichte
zu sein hat, von Erscheinungen dieser Art möglichst zu ab-
strahieren. In seinem nngedruckten Vortrage „Zur Methode
der historischen Forschung auf philosophischem Gebiete"
(April 1888) erklärt er das Interesse an Systembildern dieser
Ai-t als ein vorwiegend pathologisches. Der Historiker habe bei
der Wahl des zu behandelnden Stoffes die Pflicht, Erzeug-
nisse solcher Art, die eine Förderung der Wissenschaft nicht
zeitigen konnten, beiseite zu lassen, mögen sie auch von
Berufspliilosophen stammen, während ihm andererseits ob-
liegt, vieles aufzunelimen, Avas philosophisch Bedeutsames
von Nichtphilosophen geleistet wurde, ^^■ie die l^aralipomena
20 -=======.============_.-=
von l'ascal, Kermat, Hernouilli. Laplace, Franklin,
Joh. Müller, Darwill, Thomson, Helniholtz, Hcringu.a.
!). Im .Inlm- WSA sah sich lirentano in seinem Vortrage
üher die Zukunft der Philosophie ah(;rmals genötigt, die
wahrt' Metli()(k' der l'iiilosophie gegen Angriffe zu ver-
teidigen. Daran niciit genug, mußte er neuerdings, im
Jahre 15)11, iui Anhange zu seiner Schrift über die
Klassifikation der psychischen Phänomene, den gegen ihn
erhobenen Vorwurf „psychologistischer" Methode abwehren
und sich das Recht wahren, Begriffsdichtungen und Fik-
tionen als Undinge zu entlarven, ohne deswegen als Sub-
jektivist verdächtigt werden zu dürfen.
Wollte man freilich mit dem Namen „Psychologismus"
nichts weitei- verstehen als jene Auffassung, welche die
Psychologie als eine der wiclitigsten Nährquellen philo-
sophischer Forschung und neben der Metapliysik als die
in sich wertvollste Disziplin erklärt, so würde diese Be-
zeichnung, weit entfernt, einen Tadel auszusprechen, das Lob
enthalten, daß Brentano der Philosophie jenen wissenschaft-
lichen Charakter erhalten bezw. wiedererwerben will, den
sie zu den Zeiten der aufsteigenden Blütestadien besessen
hat, zu Zeiten eines Plato und Aristoteles, eines Des-
cartes, Locke und Leibniz. Denn indem Brentano zeigt,
wie die andern philosophischen Disziplinen mit der Psycho-
logie verbunden sind und von ihr nicht losgetrennt werden
können, ohne ihrer vorzüglichsten Nährquelle beraubt zu
werden, wahrt er der Philosophie ihren wissenschaftKchen
Charakter.
FreiHch muß die Psychologie selbst nach einer an-
gemessenen Methode getrieben werden. Diese Methode hat
Brentano nun dadurch außerordentlich gefördert, daß er
größten Nachdruck legte auf die Scheidung der sogenannten
deskriptiven Psychologie („Psychognosie"), von der gene-
tischen Psychologie. Es handelt sich hierbei um nichts
anderes als darum, eine A'erwirrung der Fragestellung zu
_^ 21
verhüten: die genetische (großenteils physiologische) Psycho-
logie fragt nach der Entstehung der Bewußtseinszustände;
die deskriptive hat sozusagen das seelische Inventar auf-
zunehmen, zu beschreiben und zu klassifizieren. Diese Frage
nach dem "Was? muß erledigt sein, ehe die Frage nach dem
Wodurch? mit Erfolg in Angriff genommen werden kann.
Die deskriptive Psychologie oder Psychognosie weist die sämt-
lichen letzten psychischen Bestandteile auf, aus deren Zu-
sammensetzung die Gesamtheit des jeweiligen Bewußtseins-
zustandes sich anolog ergibt, wie die Gesamtheit der Worte
aus den Buchstaben. Was uns die Wahrnehmung unserer
psychischen Zustände in evidenter aber konfuser Weise zeigt,
das hat die psychologische Analyse und Reflexion zur Klar-
heit und Deutlichkeit zu erheben. Wenn es einmal fest-
gestellt ist, daß alle Elemente unserer Denkgegenstände An-
schauungen entnommen sind, so kann zu einer vollständigen
Übersicht über dieselben geschritten werden, väe sie schon
Früheren vorgeschwebt hat. Ein gewisser Hochstand des
deskriptiven psychologischen Wissens ist Vorbedingung für
eine gedeihliche Inangriffnahme der genetischen Psychologie.
Dies hat man vor Brentano und auch heute noch nicht ge-
nügend erkannt. Er selbst kam erst in der Wiener Zeit zui-
l<laren Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Trennung.
10. In der Psychologie vom empirischen Standpunkte
hatte Brentano diese Scheidung noch nicht durchgeführt.
Mit der erkannten Notwendigkeit einer solchen Trennung
deskriptive!- und genetischer Fragen hängt es zusammen,
daß der 1. Band der Psychologie keine Fortsetzung gefunden
hat. Brentano scheute vor einer vollständigen Umarbeitung
zurück und zog es vor, Einzehmtersuchiingen zu veröffent-
lichen. Von diesen behandeln wolil nur der Vortrag über
das Genie und die Abhandlung über das ojitische Paradoxon
genetische Fragen, jener Probleme dei- Assoziationslehre,
diese die Ursachen der betreffenden Urteilstäuschungen.
Übrigens war schon der weitaus überwiegende Teil der
22
P.sy(:h()l()<;ie deskriptiver, „psychopfnostischer" Natur. Ihren
Kern biklote ja die neut> „Klassifikation der psychischen
l^hänomone" und ihre Sclieidun;,' in \'()rste]IunLi;en, Urteile
nrifl (iemiitstäti^^keiten, iiisltesonden; die retorniierte Urteils-
iehic. Als r>r(>ntan(> dalier 1!)11 vor die Fra<^e ihrer Nen-
aiifhi^^e gestolh unrchi, entschied er sieh fiii- den Neudruck
dieser zentralen Kapiteh \Vichti(,re ^^cnetische rntersnchuni^en
schieden dadurch aus, s(^ insbesondere seine treffende Kritik
des psyehopliNsischeii Grundgesetzes, in welcher er als erster
i>>d' den \()ii Kechiier (In Sachen der Psychopliysik, S. 45)
soll)8t als gewichtigste Einwendung bezeichneten Umstand
hingewiesen hatte, daß eben merkliche Zuwüchse nicht
gleich merklich zu sein l)rauchen.i Auch das \vicl\tige
Kapitel id)er di(> Einheit des i>evvußtseins und die Evidenz
der innern Walirnehmung ist leider weggefallen. — Bei dem
Reste entschied sich P>rentano für den unveränderten Ab-
druck-, ol)gleich er in manchem fundamentalen Punkte in
mehi- als dreißigjähriger Forscherarbeit zu Fortbildungen, ja
zu wesentlichen Berichtigungen geführt worden war. Sie
sind teils in Fußnoten, gi-ößtenteils aber im Anhange nieder-
gelegt. P)rcntano sagt selbst von diesem Nachtrage: „Ich
weiß wohl, daß die (ledrängtheit der Darstellung das Ver-
ständnis nicht erleichtert, um so mehr habe ich mich großer
Präzision im Ausdruck beflissen." Trotz dieser Genauigkeit
und trotz der Fülle neuer Gesichtsj)unkte ist das Buch
samt Anhang vollständig unbeachtet geblieben. Nur Marty
hat es wiederholt ausführlich berücksichtigt, jedoch auch
ihm sind bei der Deutung diesei- allzu aphoristischen Be-
merkungen Mißverständnisse unterlaufen, die selbst durch
die mit Brentano geführte Korrespondenz nicht beseitigt
wurden.
11. Berichtigungen seiner Psychologie vom empirischen
Standjtunkte hatte Brentano jedoch schon vor dem Jahre
' llicriil)(>r NähtM-("^ in iiiimiht Scliril't „Zur 'J'lii"<)rie des \Vert(\s",
Halle lUOl, S. 48.
^^^^^ 2?>
1911 mehrfach vorgenommen. So erkannte er es bald als
einen Irrtum, wenn die herrschende Lehre jeder psychischen
Beziehung- ausnahmslos Intensität zuspricht und insbesondere
der Grad der Überzeugung und Bevorzugung als Unter-
schiede der Intensität gefaßt zu werden pflegt. Im „Ursprung
sittlicher Erkenntnis" S. 57 und S. 84 weist er auf diesen
Fehler hin. In der „Klassifikation" S. 139 kommt er darauf
zm-ück. Seine berichtigte Intensitätslehre trägt er in den
„Untersuchungen zur Sinnespsychologie" vor, wo Intensität
als Dichtigkeit der Erscheinung im Sinnesfelde gefaßt wird.
In demselben Werke erfährt die Lehre vom primären und
sekundären Objekt eine erhebliche Veränderung, auf die er
in der „Klassifikation" S. 128 zurückkommt. Auf die in den
„Untersuchungen" enthaltene Abhandlung „Von der psycho-
logischen Analyse der Tonqualitäten in ihre eigentlich ersten
Elemente" haben neuerdings Stumpf und Revesz hin-
gewiesen. Auch die nicht minder bedeutenden Vorträge
„über Individuation, multiple Quahtät und Intensität sinn-
licher Erscheinungen", sowie die „vom phänomenalen Grün"
sind jüngst durch Stumpf eingehender berücksichtigt worden. ^
Die Fachliteratur wird daher diese Schriften wohl nicht
länger ignorieren; 2 die konzise Fassung dieser Abhandlungen
läßt im Rahmen der vorliegenden Publikation nicht einmal
eine Andeutung ilu-es Inhaltes zu; sie enthalten die haupt-
säclüichsten Ergebnisse der sinnespsychologischen For-
schungen Brentanos bis zum Jahr 1907.
Eine weitere Fortbildung erfuhr die Urteilslehre. Im
ersten Bande der Psychologie hatte Brentano noch nicht
erkannt, daß es zusammengesetzte Urteile gibt, die prädika-
tiven nämlicli, bei denen das Prädikatsurteil auf das Subjekts-
' „Die Attribute der Gefühlsempfindungen" und „Empf'indun»^
und Vorstellung". Abh. d. k. pr. Akad. d. Wiss., .Jahrg. 1917 u. 191S,
l'hil.Hist. Kl.
^ Vgl. Eisenmeier „Die Empfindungslehre Brentanos" im Brentano-
hefte der Pädag. Monatshefte und Marty Ges. Schriften, I. 2. S. 78.
42
urteil aufißt 'haut ist. So ■/a-\<^\ /.. \'>. die .Analyse der Kornu;! Sist ]\
(laU (las Sulijektsurteil in der Aiierkenuun<;' des Subjekts S be-
steht, und (ii(!scs der ( iiiindhestandt(jil di^s I)o|)j)ehirtoil.s
ist, d<n dei- zweite Teil in der Art zur Voraussetzuni^ hat,
dalJ er-, indem er darauf IJezu^^ nininit, daxun imabtrennbar
ist. Im „Ursprung sittliclui Kikenntnis" (weiterliin zitiert
als „rrsprim^") S. 'ü und S. lli) wird diese Neuerun<r er-
wähnt; in deiu Aidiau^ zur „Klassifikation" 8. 151 kommt
Brentano ausluhrlich auf ilire Konsequenzen für die Logik zu
spn.'c-hen. bis hän<^t nämlicli mit dieser Modifikaticm eine
weitere Anderunir zusammen. Klie Brentano die Natur des
Doppelurteils entdeckt hatte, mul.5te er glauben, daß jedes
['rteil, möge es in kategorischer, hypothetischer oder dis-
junktiver Form ausgesprochen werden, oime die geringste
Änderung des Sinnes in der Form eines Existentialsatzes
sich ausdrücken lasse. „Irgend ein Mensch ist krank" war
ihm synonym mit „ein kranker Mensch ist" (= „es gibt
einen kranken Menschen"). — Nun aber mußte er leliren,
bei Sätzen, die der Ausdruck von Doppelurteilen sind, sei
die existenziale Formel nicht synonym, sondern bloß logisch
äquivalent. Die Formel „S ist P" drückt eben nicht,
wie die Logik gewöhnhch fingiert, ein einfaches Urteil aus,
sondern ein zusammengesetztes; „ein Mensch ist krank"
kann daher nicht synonym sein mit „ein kranker Mensch
ist", weil „kranker Mensch" eine Verbindung ist, die sich
vollständig im A'orstellungsgebiete, nicht im Bereiche des
Urteils, abspielt (S. 1H4 der „Klassifikation"). — Die
Urteilslehre Brentanos hat bekanntlich in Marty ihren
vorzüglichsten Verteidiger und Interpreten gefunden. Zu
ihrem Verständnis wird die eben erschienene Austrabe der
O
Artilvcl Martys über die subjektlosen Sätze im ersten Teile
des zweiten Bandes seiner Gesammelten Schriften dienlich
sein. Professor Kastil hat diesem Bande eine instrukti\'e
Einleitung vorangeschickt, in welcher auf die "Weiter-
entwicklung der Brentanoschen Lehre Rücksicht genommen
25
ist. Auch in den Anmerkungen finden sich Hinweise und
Vergleiche. ^
12. Den bei der Klassifikation der psychischen Tätig-
keiten leitenden Gesichtspunkt, der wohl schon Aristoteles
und Späteren mitunter vorschwebte, den aber vor Brentano
kein Psychologe klar ausgesprochen hat, die Beziehung zu
etwas als Objekt, sowie die Einteilung in Vorstellungs-,
Urteils- und Gemütsbeziehungen hat Brentano unverändert
beibehalten und im Anhang zur „Klassifikation" (weiterhin
zitiert als „Anhang") durch neue Gründe und Abwehr von
Einwendungen gestützt. Vorübergehend allerdings glaubte
er die Klasse der „Vorstellungen" fallen lassen zu müssen.
In den Jahren 1902 — 1905 erwog er diese Fragen. Schließ-
Hch schrieb er an Marty: „Ich muß bemerken, daß, wenn
ich von Aristoteles zu mir selbst mich zurückbekehrend die
Vorstellung als besondere Grundklasse statuiere, ich dieser
Klasse schon 1. die Modi der Zeit als Vorstelhmgsweisen,
2. auch das Attribuieren (ähnlich wie das phantastische
Umbilden) zuerkenne. Das bejahende und verneinende Urteil,
wie auch Lieben und Hassen inhärieren dem Vorstellen, so-
wohl dem einfachen als attribuierenden." Über dieses attri-
buierende synthetische Vorstellen ist im „Anhang", S. 134,
Einiges gesagt. — Die Dreiteilung der seelischen Beziehungen
ist wohl jene Lehre Brentanos, die auch in wissenschaftlichen
Kreisen als die für ihn charakteristischeste gilt; sie ist, wenn
man von vereinzelten Äußerungen bei Cartesius absieht, auf
die Brentano übrigens selbst im „Ursprung", S. 51, hin-
gewiesen hat, sowolil ihm durchaus eigentümlich, als auch
von einschneidendster Bedeutung für die Psychologie und
für die Philosophie überhaupt. Die Stellungnahme zu ihr
hängt vor allem von dem Standpunkte ab, den man seiner
VerdeutHchung des Bewußtseins gegenüber einnimmt.
' Anton Marty, Gesammelte Schriften, II. lid., I.Abt., herau.s-
gegeben von Jo.sef Eisenmeier, Alfred Kastil, Oskar Kraus, Halle a. iS.
1918 bei Max Niemeyer.
L'i; _..^,,,^^^3,^,,,,,,,,^^
Das Wesentliche jedes „psj-'chi sehen LMiiinumens'* sah er,
wir olx'ii LciiKM-Ut, schon als ov die „Psychologie" schrieb,
in (l.i- Richtung auf ein „()t)icki", in der sog. intentionalen
rx'/.iciiung, die er jodoeli damals noch als „mentale In-
<'xisten/ des 01)jcktes", als „immanente (Jegenständlichkeit"
auffaßte. Diese Lehre von der Einwohnung des Objektes
<>rkannte (>r jedoeli etwa zur selben Zeit, als er die Vor-
stellungsmodi einführte, als eine verfohlte Deutung des
wahren Sachverhaltes, als eine Fiktion. Das freilich bleibt
wahr, daß jedes psychisch Tätige sich auf etwas bezieht,
und zwar bezieht es sich nach Brentanos definitiver Lehre
ausnahmslos auf Dinge (Reales). Stelle ich etwas vor, so
mache ich ein Ding zu meinem Objekte, oder ich beziehe
mich seelisch auf ein J)ing.i Doch wie immer der Umstand,
daß sich die psychische Tätigkeit auf etwas als ihr Objekt
bezieht, für sie charakteristisch ist, ist doch der Begriff der
„psycliischen Tätigkeit" und jener der „Beziehung z\i etwas
als Objekt" zu unterscheiden. Das zeigt sich schon darin,
daß jedes ])sychisch Tätige sich auf sich selbst als Objekt
bezieht, abei- niclit })rimär, sondern sekundär, wie Aristoteles
sagt, ,Jy jrwnnycr. Bei einheitlicher psychischer Tätigkeit
ist also allemal eine Mehrheit von Beziehungen und Ob-
jekten gegeben. Nicht die Scheidung nach der Verschieden-
heit der Objekte aber, sondern die nach der Differenz der
Beziehungsweisen ist, wie schon die „Psychologie" lehrte,
die fundamentalste. Man hat sich nur davor zu hüten, die
Rede von dem gegenständlichen Innewohnen für mehr zu
nehmen, als was Marty eine „innere S})rachform" genannt hat.
Von der „Psychologie" unterscheidet sich die spätere
„Klassifikation" nun noch dadurch, daß auch die Be-
ziehungsweise; des Vorstellens sich noch in weitere Unter-
abteiluniren differenziert. Es kann nicht nur bald eine an-
* Vgl. hierüber <len Anliaiiii: zu Ikentanos Klassifikation der
psychischen i'liänomene un(i Kastils p]inleitung zu Martys Gesammelten
Schriften, II. Bd., 1. Abt., Halle 1918.
erkennende, bald eine verwerfende Urteilsbeziehung, bald
eine liebende, bald eine hassende Gemütsbeziehung dasselbe
Ding zum Gegenstande (Objekte) machen, sondern es können
auch zwei Vorstellungen trotz Gleichheit des Objektes modal
verschieden sein. Die Lehre von den Modis des Vorstellens
nimmt nun in der fortgeschrittensten Psychologie Brentanos
einen breiten Raum ein und dringt bis in die feinsten Ver-
zweigungen der Erkenntnistheorie. Im Vordergrunde steht
hierbei die Scheidung in einen modus rectus und einen
modus obli(juus. Der Gedanlve ist sehr einfach: Jeder z. B.,
der etwas Relatives vorstellt, denkt zwei Dinge, wovon er
das eine (das Fundament) modo recto, das andere (den
Terminus) modo obli(juo vorstellt. Dies gilt vor allem von
jedem, der etwa eine psychische Beziehung vorstellt, i Denke
ich einen Blumenliebenden, so stelle ich den Blumen-
liebenden in recto, die Blumen in obliquo vor. Ähnlich
auch bei anderen relativen Bestimmungen: denke ich eine
Menschenmenge, Meiner als 1000 Trillionen, so denke ich
die „Menschenmenge" modo recto „1000 Trillionen" modo
()bli({uo. Auf einige Konsequenzen dieser Lehre werden wir
hinzuweisen mehrfach Gelegenheit haben.
13. Erkenntnistheoretisch bedeutsam ist unleugbar schon
die neue Deutung des „gegenständlichen Innewolmens", die
Leugnung der mentalen Liexistenz des Objektes. Nicht davon
will ich reden, daß sie von vornherein jedem ontologischen
Gottesbeweise nach Art der Anselmschen Argumentation
den Boden entzieht, ^ sondern auch jener Spielart des Phäno-
' Entstanden ist diese Moduslehre etwa um das Jahr 190.5.
Marty polemisierte gegen sie sowohl brieflicli, als auch in seinen
ünt(?rsuchiingen zur Crruiidicgung der allgemeinen Grammatik und
vSprachi)hilosophie 1908 und in den (/asustheorien 1911. Ergeht hierbei
von der irrigen Vorausset/.ung aus, daß, wo modi vorhanden sind, aucn
der Unterschied von richtig und unrichtig sich finden müsse.
* Darüber handelt Marty, Untersuchungen zur Crrundlegung diu-
aligemeinen Grammatik und Sprachphilosopliie, S. 880.
28
monalisnius, wir sif xon Kant odei- Scliopcnhanor ver-
treten wird. Man \('ri^c^en\värtif,re sich nnr, dalJ bei
der psNcliiscliei) I 'eseliiiftii^iinf.^ mit einem Ding — gleich-
gültig oh es sich um eine anschauliche oder begriff-
lich(> V'orstelhing handelt -- xon einer Hxistenzweise des
()hjektes im N'erstande, (leiste oder Bewußtsein nicht die
I\ede sein kann. „Als Pliänomen sein" heißt „als YorgestellteH
sein", nnd daß etwas als „Vorgestelltes" sei, besagt nichts
weiter, als daß ein es Vorstellender ist. "Wenn Kant lehrte,
daß wii- bloß |»hänomenaIer Wahrheit fähig seien, so erklärt
I'nmtaiio dies für geradezu absurd. „Denn was versteht
man unter einem Phänomen? Etwas, was einem erscheint.
hie i;ehaii|itiing, es bestehe etwas als Phänomen, es bestehe
alter nicht etwas das Phänomen Habende als Ding an sich,
ist also ein greifbarer A\'iders{)ruch. A\'ollte einer sagen,
auch der das Phänomen Habende bestehe nur als Phänomen,
so müßte er sagen, daß etwas anderes, das ihn zmn Phä-
nomen hat, an sich sei, und als an sich seiend erkannt
werde. Das an erster Stelle genannte Phänomen bestünde
dann nicht in recto, sondern in obhquo. "Wollte aber einer
noch weiter gelien, so wih-de auch das zweitgenannte Phä-
nomen in obhcpio werden usw. ins Unendliche. Bei aller
solcher Verschiebung bliebe aber immer die Anerkennung
eines ein Phänomen in recto Habenden, als an sich seiend,
nicht zu umgehen. So geht denn auch im Gegensatz zu dem,
was Kant lehrt, jede Wissenschaft nicht auf die Erforschung
einer sog. phänomenalen Wahrheit, sondern dei- A\'ahrheit
an sich aus" (aus dem P]ntwurfe einer Metaphvsik v. 2:1 Mai
1916). —
Da Brentanos Psychologie in der intentionalen Be-
zielnmg das Wesentliclie jeden Bewußtseins sieht, so ist
nach ilmi selbstverständlich jedes Bewußtsein ein Gegenstands-
l'e wußtsein. Niemals fehlt etwas, worauf wir uns seelisch
beziehen, auch nicht dort, wo manche ein Zustandsbewußt-
sein ohne Objekt annehmen zu müssen glauben. In seinen
29
„Untersuchungen zur Sinnespsychologie" S. 122 f . zeigt er,
wie der Schein objektloser Gefühle bei den Affekten da-
durch entsteht, daß dasjenige, worauf sich diese Lust- oder
Unlustgefühle luimittelbar richten, das sekundäre Objekt, d. i.
der Empfindungsakt, ist und nicht die räumlich ausgebreitete«
Qualität, welche das primäre Objekt der Empfindung bildet.
Eine Psychologie, die, wie etwa jene Maclis und seiner
Anhänger, die Scheidung von Fundament der psychischen
Beziehung und Terminus derselben grundsätzlich aufhebt,
steht, wie man schon aus diesen Andeutungen sieht, zu
allem, was Brentano als fundamentalste Voraussetzung psycho-
logischer Analyse betrachtet, in unüberbrückbarem Gegensatz.
Freilich haben auch solche, die die verschiedenen Weisen
der intentionalen Beziehung als Klassifikationsprinzip an-
erkennen, die Dreiteilung Brentanos mitunter verlassen.
UnVollständigkeit ist es nicht, was man ihr vorwerfen kann;
denn was Kant und andere als Denken zusammenfassen,
zerlegt Brentano in Vorstellen und Urteilen, und was diese
als Fühlen und Wollen trennen, faßt er als Gemütsbeziehungen
zusammen. Es ist also offenbar die Richtigkeit der Einordnung,
die in Zweifel gezogen wird.
Brentano hat im „Anhang" Gelegenheit genommen, auf
einige dieser Bedenlvcn zu entgegnen.
14. Wohl der auffälHgste Punkt der jüngsten Lehren Bren-
tanos ist die Behauptung, daß wir nichts anderes als Dingo
(Reales) zu Objekten haben können. Xach seiner früheren
Ansicht gab es auch Vorstellungen von Nicht-Realem ; seine
Altersphilosophie kennt nur Reales. Nur Reales kann vor-
gestellt werden. Er argumentiert folgendermaßen: „Der
Begriff desVorstellens ist ein einheitlicher; der Name univok
niclit acquivok. In diesem Begriffe liegt qs, daß jedes Vor-
stellen etwas vorstellt und es könnte, wenn dieses Etwas
nicht selbst eindeutig wäre, auch der Name .»Vorstellen" nicht
eindeutig sein. Ist dies gewiß, so ist es auch unmöglich,
daß unter dem Etwas bakl ein Ding, bald ein Niclit-Reales
30 _=__=
zu verstellen ist. Denn es gibt keiiK^ii JJegriff, der Realem
und Nicht-Roalom gemeinsam sein könnte." Als ein niclit-
nalcs cns rationis, das gleichwohl vorgestellt werden könne,
giih ihm \(.i(l(iii(l,isiiiiinanenteOb]ekt. Doch daß er dem Objekt
als Objekt nunmehr keine Existenz ZAierkennt, haben wir
schon gehört; es gibt keine im Geiste seienden Dinge: vor-
gestellte, anerkannte, geleugnete, geliebte, gehaßte Dinge
sind als solche in keiner Weise; sowenig als die Objekte
aber läßt Brentano irgendwelche Inhalte dem Denkenden
immanent sein. AVenn ich urteile „ein Zentaur ist nicht",
so j)l'legcn manche zu sagen, das Objekt sei Zentaur, der
Inhalt des Urteils aber sei, daß ein Zentaur nicht sei oder
auch das Nichtsein eines Zentauren. Sagt man, dieser Inhalt
sei in dem psychisch Tätigen, so gebraucht man wieder das
„sein" in einem uneigentlichen Sinn und sagt nichts anderes,
als was man beim Gebrauch des „seins" im eigenthchen
Sinn in den Worten ausspricht: „ein psychiscli Tätiges ver-
neint in dem Modus praesens einen Zentauren". — Manche
Erkenntnistheoretiker lassen in allen Fällen, wo ein Urteil
lichtig ist, nicht nur einen immanenten Inhalt bestehen,
sondern sprechen da von „Sätzen an sich", Inhalten, Sach-
verhalten, Objektiven, die in Wirklichkeit sind. So z. B. da
der, welcher einen Zentauren leugnet, richtig urteilt, sagt
man, das Nichtsein des Zentauren sei wirklich, während
das Sein des Zentauren nicht wirklich sei. Und umgekehrt,
weü es wahr ist, daß es einen» Bamn gibt, so sagt man
nicht bloß, es sei ein Baum, sondern auch, es sei das Sein
eines Baumes iind. es sei nicht sein Nichtsein. Nach Brentano
handelt es sich bei dieser Ausdrucks weise um Fiktionen.
Wer sich so ausdrückt wiU nichts anderes sagen, als daß
er den Zentauren mit dem Modus praesens leugne und als
Folge davon auch glaube, daß jeder, der einen Zentauren
leugne, richtig leugne. In dem „Anhang" macht Bren-
tano auf die unendlichen Komplikationen aufmerksam, zu
denen die Lehre von den Objektiven und Inhalten führen
31
muß, indem es dann außer einem A[)fcl aucli das Sein eines
Apfels, das Nichtsein des Nichtseins eines Apfels, das Sein
des Nichtseins des Nichtseins eines Apfels usw. usw. in
infinitum gäbe.
15. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle alles anzu-
führen, was Brentano zur Widerlegung der „Inhalte" bezw.
„Objektive", „Sachverhalte" oder wie sonst diese von ihm
sog. „Undinge" bezeichnet werden mögen, vorbringt. Doch
wenigstens Stellen aus zweien seiner an mich gerichteten
Briefe möchte ich hier mitteilen, weil vorzüglich diese es
gewesen sind, die mich von der Unrichtigkeit jener Lehre
überzeugt haben, die ich, Marty folgend, selbst lange Zeit
für* zutreffend hielt und noch in meiner Einleitung zum ersten
Bande von Martys Gesammelten Schi'iften vertreten habe.
Brentano schreibt am 21. März 1916: „Ich habe Ihnen
schon gesagt, daß mir klar voj- Augen liegi, auf welchem
Wege ich einst dazu gekommen bin, so Irriges zu lehren.
Ich hatte mich zunächst als Lehrling an einen Meister an-
zuschließen und konnte, in einer Zeit kläglichsten Verfalles
der Philosophie geboren, keinen besseren als den alten
Aristoteles finden, zu dessen nicht immer leichtem Ver-
ständnis mir oft Thomas v. A. dienen mußte. Da geschah
es denn u. a., daß ich mich verführen ließ, das ,ist' in den
Sätzen ,ein Baum ist' und ,daß ein Baum ist, ist' für gleich-
mäßig funktionierend zu halten. Der Anfang der zweiten
Analytilcen scheint dafür zu sprechen und Thomas v. A. er-
klärt ausdrücklich in dem Satz ,deus est' das ,est' im Sinne
von ,ist wahr'. Soll ich mich schämen, wenn ich, der ich
ein Neuling war und schon viel Mühe aufw^enden mußte,
um mir das von den Vorfahren hinterlassene Erbe zu sichern,
den Irrtum, der hierin lag, nicht sofort erkannte, vielmehr
mich zunächst noch zu anderen Irrtümern führen ließ, welche
konsequent damit zusammenhängen? A'^ielleicht darf ich hier
auf einige Nachsicht Ans[)ruch inachen, würde aber schwer zu
tadeln sein, wenn ich es für immer unterlassen hätte, diesen
82
I>clir|Mmkt ciiifi- ;_rcii;iiicii I'n'ifiiriL; /.u iint d'/iclicii, /iiinal
cirii' ucsiindc l*sv(;li()l()<ri(,' damit «ratiz uiv\ 'S.iv nnverträirlicli
isi. Ai-ist()t(.'I<'s soll)st wußte, (lal.i rine Mtigliciikoit, eine IJn-
iiiüffliclikoit, oin Nichtsein usw. schlechterdings niclit Objekt
nncf V()rst('Ihin<j; werden kiinnen. Das GegentciJ aber wäre
(blich die Meinung, die liier in Frage steht, gefordert. . . .
Sie halten J'ür eine unbeantwprtete Frage ,Was heißt das,
ein Urteil, eine Gemütsbeziehung ist richtig?'. Die Erkenntnis
dei- adaequatio i-ei et intellectus und der adaequatio rei et
aiiioi-is soll naeli lluicii das Erfassen dieser Richtigkeit sein.
Mir aber sebcmt nichts leichter, als (Hes zu widerlegen. Bei
dei' Forderung der Erkenntnis der adaequatio rei et intellectus
kommt man zu einem regressus in infinitumi, denn wie
soll ich die adaecjuatio erkennen, ohne als Vorbedingung
sowohl die Erkenntnis der res als auch die des intellectus
zu besitzen? — Die wahre Antw^ort ist längst gegeben und
ganz konform der Weise, wie andere Begriffe aufgehellt
werden. Man blickt auf eine Mehrlieit von Objekten, deren
jedes dem Begriffe entspricht, und achtet auf das, was ihnen
gemeinsam ist. So oft ich wahrnehme, daß ich mit Evidenz
uT'teile, erkenne ich mich als richtig Urteilenden. Und so
oft ich erkenne, daß ein Anderer, wenn auch vielleicht ganz
willkürlich, sich eine Meinung gebildet hat, die mit meinem
e\ddent gefällten Urteile übereinstimmt, während ein Anderer
der entgegengesetzten Meinung ist, dient mir die Evidenz
d(^s eigenen Urteils dazu, auch von diesen Urteilen das eine
im Gegensatz zmn andern als richtig zu erkennen. Was die
Richtigkeit einer Gemütsbeziehung anlangt, so verhält sich
die Sache ganz analog. "Wie wir in gewissen Fällen ein
Urteil mit unmittelbarer Evidenz als i-ichtig erfassen, so er-
fassen wir in gewissen Fällen auch eine Gemütsbeziehung
mit unmittclljai-er fividenz als richtig. Wir vergleichen dann
die betroffenden Objekte miteinander und kommen so zix
dem Begriffe einer richtigen Gemütsbeziehung im all-
• A'i^!. sclioi) „Psychologie" S. 183.
33
gemeinen. Auch da kann es dann geschehen, daß wir finden,
daß andere mit uns in bezug auf eine Gemütsbeziehung,
und wäre es auch nur aus gewohnheitsmäßigem Drang oder
instinktiv, übereinstimmen, und wir werden dann bei ihnen
vielleicht von einer richtigen, aber nicht als richtig charakteri-
sierten Gemütsbeziehung zu sprechen haben. Wie hier nur
das mindeste Bedenken zui-ückbleiben sollte, ist mir un-
erfindlich. Nie kann das Kriterium in einer adaequatio rei
et intellectus vel amoris, sondern nur in einer mit unmittel-
barer Evidenz als richtig erkannten psychischen Beziehung
gefunden werden. Sie dient sowohl zm- Beurteilung der
Richtigkeit der Gedanl^en und Gemütsbeziehungen Anderer
als auch zur mittelbaren Erkenntnis der Richtigkeit anderer
eigener Urteile und Gemütsbeziehungen, wie wenn wir etwas
theoretisch als wahr und praktisch als nützlich erschließen."
Die Aufdeckung des fiktiven Charakters aller Reflexiva,
Negativa und Privativa haben den Wert der Brentano-
schen Neuerungen für die Vereinfachung und selbst
Berichtigung der Syllogistik nicht beeinträchtigt-, wenn nun
auch Brentano manches im einzelnen anders darstellen
wüi-de, und im „Anhang" zur Klassifikation anders dargestellt
hat, als es in Hillebrands „Neuen Theorien der kate-
gorischen Schlüsse" folgerichtig ausgeführt wurde. Dies
nachzuweisen muß, wie so vieles andere, späteren Einzel-
untersuchungen vorbehalten bleiben. Einiges hierüber ist in
Kastils obenerwähnter Einleitung zum ersten Teile des
zweiten Bandes von Martys Gesammelten Schriften zu
finden. Auch die Anmerkungen der Herausgeber berühren
hie und da die fraglichen Punkte.
Die vorliegenden Mitteilungen über Brentanos Stellung
zu den entia rationis können nicht ausreichen, mu als Grund-
lage einer abschließenden Beurteilung zu dienen. Sie haben
ihren Zweck erreicht, wenn die Formulierung des Problems
und seiner Lösung verständlich genug herausgearbeitet er-
scheint, um das Interesse für diese letzten Forschungen
Kraus, Franz Hrcntano. 3
34 -================================^=^=_
Brentanos zu erwecken, und vor dem Erscheinen der dies-
bc/ü.!^liclion Abliandlun^on zum Studium des „Anhangs" der
Khissifikation anzuregen.
16. In unmittelbarem Zusammenhange mit den eben
berührten Fragen stehen die Umbihlungen, die Brentano in
seinem letzten Lebensjahre an der Lehre von Anschauung
und Begriff vorgenommen hat.
Mit der herrschenden Lehre hatte Brentano lange
Zeit gelehrt, daß unsere Anschauung uns Individuelles zeige. ^
In letzter Zeit kam er zu dem Ergebnis, daß keine unserer
Anschauungen, weder die äußere noch die innere "Wahr-
nehmung, uns jemals etwas anderes als Univei'selles biete
und daß alle unsere Anschauungen nur als Vorstellungen
von geringster Allgemeinheit, nicht aber als „indi^T^-
duelle" Vorstellungen bezeichnet werden können. Diese
höchst überraschende Behauptung ist jedoch ohne besondere
Schwierigkeit in ihrem Kerne zu verstehen: Bis vor kurzem
hat die Psychologie an der aristotelischen Lehre festgehalten,
daß kein allgemeiner Begriff gedacht werden könne, ohne
daß das „Phantasma" mitvorgestellt wtirde, so daß z. B.
der Begiiff Farbiges auch niemals erneuert werden könnte,
ohne Farbiges irgendwie anschaulich zu haben. In jüngster
Zeit ist dies melirfach bezweifelt worden. Martj hat in
seinen „Untersuchungen" die Erneuerung der allgemeinen
Begriffe nicht mehr an die Erneuerung der Anschauung
(Phantasma) gebunden, und experimentelle Forschungen
der „Denkpsychologie" scheinen ihm liierin recht zu geben.
— Brentano geht weiter. Der Charakter der Allgemein-
heit eignet nach ihm nicht erst den durch Abstraktion aus
Anschauungen gewonnenen Begriffen, sondern den An-
schauungen selbst. Vor allem der inneren Wahrnehmung.
Würden wir unsere Substanz in ihrer indi\dduellen Besonder-
heit wahrnehmen, wie wäre der Streit zwischen Materialisten
und Spiritualisten so lange ungeschlichtet? — Wir nehmen
^ Vgl. z. B. Untersuchungen zur Sinnespsychologie S. 57.
35
wolil unser Denken — die Akzidentien — als unkörperlich
wahr, aber das Subjekt des Denkens wird nur in höchster
Allgemeinheit erfaßt. Nicht einmal die Spezifikation als
Körperliches oder als Geistiges wird angeschaut. Wenn wir
uns daher auch nicht als körperlich wahrnehmen, so ist
doch die bloße innere Erfahrung nicht imstande, uns unserer
Geistigkeit zu versichern! AVir nehmen uns wahr als
denkende Dinge. Was dieses Ding individualisiert, wird
nicht wahrgenommen und was wir daher wahrnehmen, wenn
wir unsere psychischen Tätigkeiten wahi-nehmen, ist genau
so wie bei uns bei jedem andern auch möglich. Ein anderer
kann empfinden, wa-s ich empfinde, m'teilen, was ich nrteile,
begehren, was ich begehre usw. Dieser universelle Charakter
unserer Innern Wahrnehmung verleiht der Psj^chologie von
vornherein den Charakter einer allgemeinen Wissenschaft.
Yei:wunderlicher als diese Lehre erscheint es manchem viel-
leicht, wenn Brentano nun ganz ebenso von der äußeren
sinnlichen Anschauung behauptet, daß sie niemals Indivi-
duelles zeige. Bestimmt man doch meistens mit Kant den
Gegensatz zwischen Anschauung und Begriff dahin, daß
dieser universell, jene aber individuell sei!
Aber andererseits wird von vielen und angesehenen
Denkern die Lehre vertreten, daß unsere räumlichen An-
schauungen alle relativ seien. Diese Behauptimg wäre aber
doch wohl unmöglich, wenn wir in der Anschauung ebenso
absolute d. h. letzte spezifische Ortsdifferenzen gegeben
hätten, wie wir letzte- spezifische Ton- und Farbendifferenzen
anschauen! — So wird denn Avohl die nativistische Lehre
insofern einer Berichtigung bedürfen, als gelehrt werden
muß, daß uns örtliche Bestimmimgen nur als relative Be-
stimmungen von räumlich Abstehendem, verschieden nach
Richtung und Grad des Abstandes zur Anschauung kommen.
Der Ort des Gesehenen erscheint uns in seiner Tiefen-
diraension ohne alle absolute spezifische Bestimmtheit und
daher kann ilrni eine solche auch nach Breite und Höhe
3*
36
nicht zukommen. Jeder einzelne Punkt ist durch nichts
spezialisiert, allein in seiner Hinordnun«^ zu einem andern
(jrschcint jeder von jedem und in anderer Richtung ab-
stehend. Ks ist nicht gefordert, daß wir außer diesen sie
unterschoidcn(h-n relativen Bestiimnungcn noch absolute
anzugeben vermögen. Erkennen wir doch auch auf anderen
Gebieten Größenverhältnisse, ohne die absoluten Größen zu
erkennen, wie z. B. wenn wir erfahren, daß ein Mann dopi)elt
so reich ist wie ein anderer. — Nach Brentano schauen
wir Farbig-Qualifiziertes an als abstehend von einem in
recto vorgestellten unqualifizierten Zentrum. Die verwandte
Darstellung Stumpfs in seinem Buche über den Ursprung
der Raumvorstollungen ist nach seinen Mitteilungen nicht
ohne Einfluß mündlicher Unterredungen mit Brentano ent-
standen. Die spezifischen substanziellen Bestimmungen,
d. h. die absoluten Orte, sind uns nicht anschaulich und
somit ist unsere Raumanschauung nicht individuell, sondern,
weil relativ, von gewisser Allgemeinheit. Von den übrigen
Sinnesgebieten, dem Tonsinn und den von Brentano zu
einem dritten Sinne zusammengefaßten Spürqualitäten i gilt
Älmliches. Nur daß die Tonqualitäten auch hinsichtlich ihrer
Abstände ungleich unbestimmter und konfuser lokalisiert
erscheinen. Ist dem so, so kommt keiner sinnlichen An-
schauung indi^dduelle Bestimmtheit zu, denn sie erscheint
notwendig hinsichtlich eines zu ihrem Wesen gehörigen
Charakterzuges unvollständig bestimmt. Wie die äußere
Anschauung niemals ohne räumliche . Bestimmung, so ist
nach Brentano weder die äußere noch die innere Anschauung
jemals ohne Zeitlichkeit. Doch handelt es sich bei der Zeit-
anschauung nicht um eine Objektsdifferenz, sondern um einen
modalen Unterschied. Wir können nichts vorstellen, ohne
es mit irgendeinem zeitlichen Modus vorzustellen. Hier laufen
alle speziellen Bestimmungen auf ein gegenwärtig, mehr
oder minder lang vor dem Gegenwärtigen Gewesenes oder
' Vgl. Untersuchungen zur Sinnespsychologie.
37
nacli dem Gegenwärtigen sein Werdendes hinaus. Spezifische
Zeitpositionen — wie etwa Martyi dies lehrt — schauen wir
nicht an, auch hier fehlt also jeghche individuelle Bestimmung. 2
17. Unter den vielen Fragen, die sich dem Leser dieser
dürftigen Mitteilungen aufdrängen, dürfte wohl keine dring-
Hcher sein als die, auf welche AYeise wir, nach Brentano,
zur Erkenntnis, daß es nur Individuelles geben könne, kommen,
wenn nicht bloß unsere Abstraktionen, sondern auch unsere
Anschauungen Allgemein Vorstellungen sind? Brentano hat
diese Frage wiederholt, so noch in dem letzten Diktate
am 9. März 1917, beantwortet; er zeigt zuerst, wie wir auf
dem Wege des attribuierenden (identifizierenden, syn-
thetischen) Vorstellens zu dem Begriff des Individuellen als
desjenigen, wofür eine weitere Differenzierung nicht mög-
lich ist, gelangen. Wollte man nun annehmen, daß es etwas
anderes als Individuelles geben könne, so hieße dies so
^del, als wir dächten etwas vollständig allen seinen ihm
zukommenden Bestimmungen nach und dächten etwas ihm
in allen diesen Bestimmimgen Gleiches, also in gar nichts
Verschiedenes, und doch sei dieses nicht jenes, was wider-
spricht, da die sämthchen Teilbestimmungen die Gesamt-
bestimmung ausmachen.
Noch eine andere Aufldärung scheint gegenüber diesen
neuen Lehren hier nötig. BekanntHch nimmt Brentano
mit Leibniz zwei Erkenntnisquellen an: apodiktische,
apriorisch-evidente Wahrheiten, die aus den Begriffen ein-
leuchten, und verites de fait, das ist die \inmittelbare tat-
sächliche Evidenz der Innern Wahrnehmung. Da erhebt
sich die Frage, wie wir trotz dem — soeben dargelegten —
Mangel individuahsierender Bestimmungen bei der Selbst-
wahrnehmung zu erkennen vermögen, daß nur ein In-
dividuum nicht aber viele von uns erfaßt >verden? Die
Antwort darauf ist, daß nur eines mit dem Wahrnehmenden
1 Raum und Zeit, Halle 1916.
2 Vgl. weiter unten.
38
identiscli sein kann und nur was mit ihm identisch ist, von
ihm mit Evidenz erfaßt werden kann. — Gewiß werden
unsere psychisclien Tätigkeiten nicht als absolut notwendig
\()n uns erkannt; wäre aber die psychische Tätigkeit, die
ich in diesem Augenblicke wahrnehme, nicht einmal relativ
zu mir alsWahrnt.'hmcndcm notwendig, könnte vielmehr mein
Anerkennen auch sein, währcnfl das Anerkannte nicht ist,
so mangelte jede Sicherheit des Urteils. Relativ zu mir als
Denkenden ist aber das Gedachte jedenfalls dann notwendig,
wenn es mit dem Denkenden identisch ist. Wären das An-
erkennende und das Anerkannte zwei voneinander ver-
schiedene Dinge, so wäre nicht einzusehen, wie eine evidente
Erkenntnis möglich sein sollte; kausale Abhängigkeit des
Subjektes von dem zum Objekte gemachten Dinge v/ürde
nicht genügen, da jede sekundäre Ursache durch eine andere,
allenfalls — wie schon Cartesius lehrte — durch die primäre
ersetzt werden kann. Nur bei vollständiger Identität besteht
die Sicherheit, daß das Erkennende nicht sein kann, ohne
daß das Erkannte ist.^ — Aus analogen Gründen ffibt es
kein e^ndentes assertorisches verneinendes Urteil. —
Schließlich sei in diesem Zusammenhange noch darauf
hingewiesen, daß Brentano seine in der „Psychologie" auf-
gestellte Behauptung, daß die innere Wahrnehmung nicht
zur innern Beobachtung werden könne, bis zuletzt aufrecht
erhalten hat. Nicht nur im „Anhang" S. 130 wiederholt er
diese Lehre, noch am 17. Februar 1917 schrieb er auf meine
Anfrage, daß nach seiner Meinung die innere Wahrnehmimg
wohl in keinem Falle innere Beobachtung genannt zu werden
verdiene. Sie sei ja ohne jedes dauernde Verweilen und
gestatte so kein Experimentieren und vergleichendes Be-
trachten und Überlegen. Verstehe man also unter Beobachten
ein vergleichendes Erforschen, so könne die innere Wahr-
nehmung nicht zur innern Beobachtung werden. Wohl aber
könne früher Wahrgenommenes im Gedächtnis zum primären
1 Vgl. Psychologie S. 183 f.
39
Objekte gemacht und dann so studiert werden, wie man die
Objekte des primären Be\\aißtseins z. B. eine Farbe studieren
kann. Allerdings ist diese Beobachtung primärer Objekte
kein evidentes Wahrnehmen. Was die evidente innere Wahr-
nehmung selbst anlangt, gilt von ihr, was mit jeder evidenten
Erkenntnis vereinbar ist, ncämlich, daß sie konfus ist. Schon
der „Anhang" weist darauf hin, wie dieser Umstand, der
zu manchen Irrungen Anlaß gibt, dazu geführt hat, die
E\^denz der inneren Wahrnehmung in Zweifel zu zielien.
Auch in den hinterlassenen Aufzeichnungen kommt Bren-
tano auf diese Zweifel und ihre Abwehr zurück. Er zeigt
z. B., wie wir manches klar imd deutlich, manches aber Mar
und konfus perzipieren, wie z. B. manche kompHzierte Mehr-
klänge imd die sog. Klangfarbe von Instrumenten, Stimmen,
Vokalen. Hier liegt ein Minus an Erkenntnis vor, aber nicht
ein Irrtum. Wir haben nicht etwas falsch innerlich wahr-
genommen. Auch wenn einer die zusammengesetzten Töne
falsch bestimmt, dürfen wir nicht von einer falschen Innern
Wahrnehmung sprechen, wie ja auch nicht, wenn emer,
weil „Ei" mit E-i geschrieben wird, verkennt, daß wir beim
Sprechen ein A-i aufeinander folgen lassen.
18. Das Zeitproblem hat Brentano seit jeher auf das
lebhafteste beschäftigt. Ungezählte Abhandlungen suchen den
Weg zu seiner Lösung. In den neunziger Jahren glaubte
er ihn nun mit Hilfe der Annahme besonderer Urteilsmodi
gefunden zu haben. Hier knüpfte Marty an, indem er
neben dem Aktualitätsmodus der Gegenwart einen In-
aktuaUtätsmodus annahm und außerdem zeitliche Positionen
von uns vorgestellt wähnte. Brentano verwirft diese Lehre.
Eine Reihe von kritischen Untersuchungen beschäftigt sich
mit der Theorie Martys von Raum und Zeit und eine noch
weit größere Anzahl kleinerer und größerer Monograpliien
nimmt das Zeitproblem von verschiedensten Seiten her in
Angriff. Das Gottesproblem ausgenommen ist Brentano wohl
zu keiner Frage öfter und mit unbesiegbarerer Geduld zurück-
40
gokohrt als v.u der Fra^j^e nach dem Ursprung unserer Zeit-
vorstolluii^f 1111(1 /.um Kontinuitätsproblom überliau])t. Gewiß
auch danmi, weil .sii; mit jcmcii luiclistcn metaphysischen
Fragcui unal)tronnl)ar vcrknü[)rt sind. Das P]igentümUche
seiner i\lothodo, besonders sein aporctisches Verfahren, seine
wissenschaftliche Phantasie, die ihm freieste Beweglichkeit
bei der Hypothosenbildung ermöglichte, sein wissenschaft-
licher Takt, der jene in den nötigen Schranken liielt, um
sie nicht ins Grund- und Bodenlose geraten, vielmehr nie-
mals allzuweit vom Ziele abirren zu lassen, sein analytisches
Vermögen, alle diese Vorzüge treten bei diesen Studien zu-
tage. Es ist darum besonders mißhch, über die Ergebnisse
dieser viele Jalu-zehnte zurückreichenden Forscherarbeiten
dürftige Andeutungen zu machen. Docli hat Brentano
selbst nicht davor zurückgescheut, in dem „Anhang" auf
rund zwei Seiten seine neue Lehre vorzutragen, wonach die
temporalen Differenzen als verschiedene Modi des Vorstellens
zu bezeichnen sind (S. 131 u. 132). Er schließt mit den
Worten: „Wie ein Qualitätsmodus keinem Urteil felilen kann
und wir dies zuversichtlich für alle urteilenden Wesen zu be-
haupten vermögen, so ist auch ein Temporalmodus schlechter-
dings für jedes Vorstellen erforderlich und es kann dies
ohne Kühnheit nicht bloß für Mensch und Tier, sondern
für jedes vorstellende Wesen überhaupt gesagt werden. Es
gilt mit derselben Sicherheit wie der Satz, daß es keine Vor-
stellung gibt ohne Objekt. Dieser Punkt ist von höchster
Wichtigkeit, hat die weittragendsten Konsequenzen, und ich
behalte mir vor, ein anderes Mal eingehender bei ihm zii
verweilen."
Um aus der Fülle der hier verwerteten Gedanken den
wichtigsten hervorzuheben, so sei bemerkt, daß die Lehre
von den temporalen Modis im wesentlichen nichts anderes
ist als eine Anwendung der Theorie vom modus rectus
und modus obliquus. Wer eine Tonfolge hört, z. B. c d e, dem
erscheint in ihr, so sagt man, spezifisch derselbe Ton, z. B.
^__^^^^^^^^_^^^^__^___^___^ 41
der Ton c, also dasselbe Objekt, zuerst als gegenwärtig,
dann mehr und mehr als vergangen. Nach Brentano ist
dieser Vorgang so zu begreifen, daß vom ersten Auftreten
des Tones bis zu seinem Verschwinden immer etwas als
gegenwärtig von uns vorgestellt Avird, zuerst der Ton selbst,
dann etwas, was als später, als ferner und ferner in derAVeise
des Späteren von eben jenem Tone absteht. Und selbst
wenn wir etwa während einer Pause die Erscheinung des
,, vergangenen Tones" haben, stellen wir zugleich uns selbst
vor, als gegenwärtig diese Erscheinung Habende und so
haben wir immer etwas als gegenwärtig, wenn wir etwas
als vergangen vorstellen. Die ganze Sukzession bei der
äußern Anschauung besteht nicht in einer kontinuierlichen
Änderung des Objektes, sondern in einer kontinuierlichen
Änderung des Temporahnodus, mit welchem es vorgestellt
wird. Freilich ist die Mannigfaltigkeit dieser Modi bei unserer
sinnlichen Anschauung eine eng begrenzte, allein dies hindert
uns nicht, ähnHch vde wir bei den eng begrenzten räimi-
lichen Sinnesfeldern es tun, durch Analogie begrifflich ins
Unendliche über das unmittelbar Gegebene hinaus zu p-ehen.
Als Objekt angeschaut wird unsere auf die primären Objekte
mit einer Kontinuität von temporalen Modis sich richtende
psycliische Tätigkeit. Immer aber denken wir irgendetwas
modo recto als gegenwärtig und als Späteres abstehend
von jenem früher Gewesenen, das modo obliquo vorgestellt
ist. AVenn man nun aber anerkennt, daß etwas auf diese
AVeise nach einem andern sei, so erkennt man nur von
ihm selbst an, daß es sei, von dem andern nicht. Man
glaubt nur, es sei gewesen. Die Art, wie wir zeitliche
Relationen denken, erinnert an die Art, wie wir psychische
Beziehungen denken. Anerkenne ich z. B. einen Gespenster-
gläubigen, so anerkenne ich wahrhaft nur das Fundament,
den Gespenstergläubigen, nicht aber den Terminus, d. i.
die Gespenster, von denen man zu sagen pflegt, sie seien
als geglaubte. Das in modo recto Vorgestellte wird wahr-
42
haft anerkannt, das in modo ol)]i(iuo Vorgestellte unterliegt
einer modifizierten Anerkennung. Ahnlich bei der Zeit-
relation: das mit dem modus ])racsens Vorgestellte ist als
Fundament der ik'zi('hung modo n^fto wahrhaft anerkannt,,
das mit dem Präteritalmodus, modo obhquo Vorgestellte
und Anerkannte ist modifiziert anerkannt, nicht als seiend,
sondern als gewesen seiend. Das oblique Vorstellen also
infiziert das darauf gebaute Anerkennen und bewirkt, daß
wohl das Fundament der Beziehung, nicht aber der Terminus
wahrhaft anerkannt wird. Dennoch ist aber der Terminus
von jener Anerkennung in einer Weise mitbetroffen, die
bewirkt, daß wir das Gewesensein und Zukünftigsein von
schlechthinigem Nichtsein recht wohl unterscheiden. Alles
zeitliche Nacheinander denken wir somit in einer kontinuier-
lichen Mannigfaltigkeit von solchen Vorstellungsmodis, die,
wenn auch anschaulich nur in beschränkter Ausdehnung
gegeben, doch einer begrifflichen Erweiterung über jede
Grenze hinaus fähig ist.
Diese Variation von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft ist, wie schon bemerkt, keinesfalls eine Variation der
Objekte, da \nolmehr jedes Ding, das wir zum Objekte haben,
sowohl als vergangen, Avie als gegenwärtig und zukünftig
gedacht werden kann. Sie weist aber auf einen, uns in seinen
spezifischen Differenzen nicht anschaulichen, dinglichen und.
substanziellen Wechsel hin, der sich gleichmäßig kontinuier-
lich bei allen Substanzen vollzieht, da jede Dauer eine Länge
oder Größe und jede Größe Teile aufweist, die voneinander
verschieden sind. Was die innere Wahrnehmung anlangt, so
erfaßt sie mit Evidenz nur ein einziges Jetzt, die Gegen-
Avart als Grenze, zu deren Natur es gehört, daß sie
Grenze eines A"on ihr begrenzten Kontinuums ist,
Avelches, als ein Früheres oder als ein Späteres, aber auch
soAvohl Früheres als Späteres gedacht Averden kann. Trotz
der Beschränkung der innern Wahrnehmung auf den einen
Punkt wird also in ihr nicht nur der Punkt in recto vor-
4?
gestellt lind anerkannt, sondern auch in obliquo eine Zeit-
strecke, für welche der Punkt eine Grenze ist. Daß diese
Zeitstrecke keine bestimmte Länge aufweist, paßt voll-
kommen zu der schon hervorgehobenen Tatsache, daß wir
uns in der innern Wahrnehmung nicht in individueller Be-
stimmtheit, sondern bloß allgemein als psychisch tätige Dinge-
erfassen. „Wir erfassen nicht mehr, als daß wir Substanzen
sind, welche gewisse Denktätigkeiten als Akzidentien an
sich haben und einem substanziellen zeitlichen Kontinuum
angehören. Diese Zugehörigkeit ist aber nichts, was nicht
ebenso von jeder andern Substanz, ja, man kann es nach-
weisen, auch von der Gottheit gesagt werden kann" (Manu-
skript V. 13. Februar 1915). Alles Zeitliche, das ist, ist also-
ein Gegenwärtiges, aber nicht ein Isoliertes, vielmehr ist es
fortbestehend oder endigend oder beginnend. Ohne Kontinual-
relation zu Früherem oder Späterem kann es nicht sein, es
gehört zum Begriff des Gegenwärtigen, daß es in einem
beliebig kleinen aber immer endlichen Zusammenhang mit
solchem steht, ivas A'On ihm mehr oder minder absteht und
stets nur in obliquo gedacht werden kann, während das
gegenwärtige Element des zeitlich Fortbestehenden nur in
recto vorstellbar ist.
19. Es ist selbstverständlich, daß schon der in diesen
Betrachtungen verwertete Begriff der Kontinualrelation
Brentano veranlassen mußte, sowohl den Begriff des Kon-
tinuums, als den der Relation auf das genaueste zu unter-
suchen. Ist ja die zeitliche Relation nur eine besondere oder
vielmehr die fundamentalste Kontinualrelation. Auch diese
Untersuchungen reichen weit zurück. Wie anregend in dieser
Beziehung bereits Brentanos Wiener Vorlesungen gewirkt
haben, das beweisen u. a. die Humestudien Meinongs,.
dessen Relationstheorie von dem Gehörten mannigfachen
Gebrauch macht. Man würde jedoch fehlgehen, sie etwa
als Quelle für die Kenntnis des damaligen Standes Bren-
tanoscher Lehren benutzen zu wollen, da Meinonjr es
44
vermieden hat, seine eigenen Zutaten und Abweichungen
von dem übernommenen Lehrguto erkennbar zu scheiden.
Der Hauptdifferenzpunkt der späteren Lelire Brentanos
von der früheren hängt auch hier mit der Leugnung der
Irrealen zusammen. Ehemals anerkannte er auch irreale
Relationen. Ja, die wiclitigsten Beispiele vQn Nicht-Realem
wurden neben dem Bereiche der Negativa und Privativa
dem der Komparativa entnommen: Gleichheit, Älinlichkeit,
Verschiedenheit. — Nach seiner neuen Auffassung fällt alles
Relative unter den Begriff des Realen. Das Denken des
Relativen hat die schon erwähnte Eigentümlichkeit, daß, wer
das Fundament eines Relativen in modo recto vorstellt, den
Terminus in modo oblique vorstellen muß.
Die ge'\\'öhnliche Meinung ist nun die, daß die relativen
Attribute durchwegs die Existenz von etwas, worauf sie
sich beziehen, verlangen; z.B. Cajus ist größer als Titus, wo
die Existenz von Cajus als des Größern die von Titus als des
Kleinern fordert. Hierbei ergibt sich aber die Sonderbarkeit,
daß scheinbar das relative Attribut des Cajus verloren gehen
Ivann, ohne daß sich das Subjekt (Cajus) in der fraglichen Be-
ziehung irgendwie real ändert, z. B. indem Titus ihn über-
wächst und Cajus niin dadm'ch kleiner wird, ohne daß sich seine
Größe vermindert hat. Man muß sich jedoch hüten. Aus-
sagen über solches, was ganz außerhalb des Subjektes liegt,
für ein relatives Prädikat zu nehmen, statt für eine deno-
minatio mere extrinseca. Sage ich, die lebenden Menschen
seien weniger als 1000 Milliarden, so anerkenne ich w^ohl
die lebenden Menschen, nicht aber die 1000 Milliarden.
Letztere stelle ich bloß vor und vergleiche das Avirldich An-
erkannte mit dem bloß Vorgestellten und mit dem Namen
„1000 Milliarden" Assoziierten. Das relative Attribut ist hier
■ein reales Prädikat von gewisser Allgemeinheit, nicht wesent-
lich anders, als wenn ich etwa sagen würde: die lebenden
Menschen sind ungefähr 4 Milliarden. Wenn ich dagegen
«age: die Einwohner Prags sind weniger an Zahl als jene
45.
Wiens, so habe icli zwei Aussagen gemacht, indem ich nicht
nur die Einwohner Prags, sondern auch jene Wiens an-
erkannt habe; der sprachhche Ausdruck verschmilzt hier
ein relatives Attribut mit der Anerkennung von etwas, was
ganz außerhalb des Subjektes liegt. — Schält man das, was
relatives Attribut ist, rein heraus, so unterliegt man auch
nicht mehr der Versuchung zu lehren, daß bei den kom-
parativen Relationen ohne diesbezügliche Änderung des
Subjektes das relative Attribut verloren gehen könne (indem
z. B. die Einwohnerzahl der einen Stadt wächst, während
die andere unverändert bleibt und dennoch das relative
Attribut dieser andern unverminderten Menge sich scheinbar
verändert hätte!). Mit dieser Versuchung aber entfällt auch
der Schein, als ob es sich bei den relativen Bestimmungen
um irreale Prädikate handle, deren Verlust und Gewinn
ohne reale Änderung des Subjektes man für möghch hielt.
So wird denn die Meinung, daß jegliches Relativum außer
der Existenz des Fundaments die Existenz des korrelativen
Terminus verlange, aufzugeben sein, was schon die Betrach-
tung der psychischen Relation und der Kontinualrelätion
des Gegenwärtigen zum Vergangenen und Zukünftigen
nahe legt.
20. Was das Kontinuitätsproblem anlangt, so vertrat er
gegenüber den modernen Versuchen der Mathematiker, den
Begriff des Kontinuierlichen durch Konstruktion zu ge-
winnen, die Lehre, daß er durch Abstraktion aus der An-
schauung gewonnen sei. Sowohl die äußere, als die innere
Erfahrung bietet uns nach Brentano — Avir hörten es
schon — unmittelbar Kontinualrelationen. Beim räumlichen
Kontinuum können wir, das ist zuzugeben, die einzelnen
Punkte und Grenzen gewiß nicht unterscheiden. Es gibt
zweifellos Grenzen der Merklichkeit. Auch wer eine violette
Fläche anschaut, vermag — wie schon die „Untersuchungen
zur Sinnespsychologie" ausführten — die blauen und roten
Elemente in ihrer örtlichen Position nicht voneinander zu unter-
46
scheiden; wir können aber mit aller Sicherheit die allgemeine
Bestimmung von dem Sinnesfelde aussagen, daß in ihm rot
und blau enthalten sei, — den allgemeinen Charakter des
IV-illiabens am Koten und Blauen erfassen wir. So auch beim
Kontinuum: wir erfassen mit aller Sicherheit, daß in dem
Ganzen Grenzen enthalten sind und eine Koinzidenz von
Grenzen statthat, sowenig wir auch die Punkte und Grenzen
im Einzelnen unterscheiden.^ In dem Gedanken des Punktes
liegt die Zugehörigkeit zu einem Kontinuum von irgend-
welcher bestimmten Ausdehnung beschlossen und diese kann
beliebig klein, muß aber immer als endlich angenommen
werden. So klein auch im-mer, kann sie nicht unendlichmal
in dem Kontinuum, dem als bestehenden der Punkt zu-
gehörig erscheint, enthalten sein, und so kommen wir nie
dazu, das Kontinuum wegen der in beliebiger Menge in ihm
zu unterscheidenden Punkte als etw^as, was aktuell unend-
lich viele Punkte unterscheiden lasse und als Gesamtheit
von unendlich \delen Punkten, die sich zueinander addieren
ließen, zu fassen. Man kommt wohl dazu, die Punkte Avie
dem Ganzen, so auch Teilen und ins Unendliche kleinem
imd kleinern Teilen des Kontinuums unmittelbar zugehörig
zu denken. Einem unendlich kleinen Teil aber kann man
ihn nicht zugehörig denken und keinem, zu dem er aus-
schließlich gehört, so daß eine Kreuzung der zugehörigen
Sphären ganz unvermeidlich wird. Eine Addition bedarf
aber der totalen Neuheit jedes einzelnen Addenden. 2
Wie das Zeitliche das Reale oder Ding als solches ist, so ist das
Räumliche das Körperliche als solches. Weder das eine noch
^ Brentano tadelt an der Dcdekind- und Poincareschen Kon-
struktion, daß sie den wesentlichen Charakter des Kontinuums, näm-
lich, daß es Grenzen enthalte, welche für sich nichts sind, aber doch
in Vereinigung mit anderen einen Beitrag zum Kontiniuim liefern,
verkenne.
* Dagegen fehlen auch jene, welche aus zwei Äpfeln und aus
dem von diesen gebildeten Paare als drittem Dinge eine Vierheit
bilden, die mit jenen zusammen fünf ergibt xisf. ins Unendliche.
47
das andere kann olme Kontinualrelation sein, oder, selbst
ganz im allgemeinen, gedacht werden, wobei sowohl das
Maß als die Richtung der kontinualen Relation ganz un-
bestimmt bleiben kann.
Brentanos Kontinuitätstheorie fußt auf seiner Lehre
Ton der Plerose und Teleiose und der Unterscheidung
primärer und sekundärer Kontinua. Es gibt multiple
Ivontinua, wie z. B. solche, wo das räumliche Kontinuum als
das primäre, das Farbenkontinuum als das sekundäre
erscheint. Im Falle einer Bewegung von Ort zu Ort läßt
sich ein Doppellvontinuum nachweisen, bei welchem das
zeitliche Kontinuum das primäre, der zeitlich konstante oder
variierende Ort das sekundäre Kontinuum ist. Auch jede
Linie stellt sich als ein Doppelkontinuum dar, in welcher
die Mannigfaltigkeit der Ortsdifferenzen als das primäre, das
Richtungskontinuum als das sekundäre zu bezeichnen ist.
Was die Unterschiede der Plerose anlangt, so nennt Brentano
so die Unterscliiede der Fülle oder Vollkommenheit, in welcher
z. B. ein Punkt, nach jeder der Richtungen, in welcher er
Grenze sein kann, tatsächlich Grenze ist. So besteht ein
Punkt im Linern einer Kugel in voller (indefinit vielseitiger)
Plerose im Unterschied etwa zum Scheitelpunkt eines Kegels ;
oder einem Lebenden kommt im Zeitpunlct, in dem sein Leben
beginnt oder endet die halbe Plerose, dagegen jedem dazwischen
liegenden Zeitpunlvte seines Lebens die ganze (hier zweiseitige)
Plerose zu. Mit diesem Unterschied der Plerose hängt der
Unterschied von innerer und äußerer Grenze zusammen, und
alles, was sich liier ergibt, ist Folge der kontinualen Relativität
und der wesentlichen Zugehörigkeit des Punlvtes zu einem
Kontinuum: Bei einem eindimensionalen Kontinuum können
die Grenzen nach den zwei entgegengesetzten Richtungen
Grenzen sein und sind dann innere Grenzen. Sie können
aber auch nach einer Richtung des Begrenzten innere sein,
nach der andern äußere, dann sind es scheidende Grenz-
pimkte. Eigentlicli nicht einer, sondern zwei in lialber Plerose,
48
wflclir k()iiizi<li<.Tcn. Damit z.B. zwei Küipcr in einem Punkte
sich nicht Mol.} hcrüliren, sondern miteinander zusammen-
hängen, nuilj der J'unkt, in dem sie sich berühren, für beide
ein innerer Punkt sein, während, wo es sich um bloße
äiißcre Berührung liandelt, eigentlich zwei Punkte von un-
vollkomniener Plerose koinzidieren, von denen je einer einem
der beiden sicli berührenden Kontinua innerlich, der andere
ihm äußerlich ist. Und wiederum kann es, wie im Falle des
Lebensbeginncs oder Lebensendes, geschehen, daß eine
Grenze einseitig begrenzt, daß aber ein anderer einseitig
begrenzender Punkt, der mit ihm koinzidiert, nicht vorhanden
ist. Nach dem Gesagten stellt sich also jede innere Grenze
als eine Mehrheit dar. Ein Punkt in voller Plerose er-
scheint noch in Teile, ja vielleicht in indefinit viele Teile
zerlegbar, und kann nach jedem von ihnen als individuell
derselbe noch fortbestehen, wenn die andern entfallen sind,
nur für sich, während er vorher diesem Teil nach nicht für
sich bestanden hat.
Was Brentano Teleiose nennt, ist nichts anderes als
der Yariationsgrad, der Grad — Brentano spricht auch
von „Geschwindigkeit" bezw. einem Analogen der gewöhn-
lich so o;enannten Geschwindigkeit — des Wechsels. So
zeigt der zeitliche Verlauf einen Wechsel, der als solcher
ohne jedes Wachstum und ohne jede Minderung des Yaria-
tionsgrades ist. Die zeitliche Variation ist nicht variabel. Auch
das Örtliche als solches variiert ausnahmslos gleich. Diese
Regelmäßigkeit oder Gleichmäßigkeit der Variation ist allen
primären Kontinuis gemeinsam. Bei den sekundären Kon-
tinuen dagegen kann der Verlauf bald schneller, bald lang-
samer sein. Das Rot als Anfang einer langsamem oder
schnellern A^ariation zum Blau liin, kann nicht in gleicher
Vollkommenheit rot sein, \md noch weniger so vollkommen
rot, wie in dem Falle, wo es als Grenze zu einer vollkommen
gleichmäßig roten Fläche gehört. Der Geometer faßt das
Örtliche, den Körper, in Abstraktion A'on seinem Bestände
49
in der Zeit und betrachtet ihn daher als primäres Kontinnum.
Doch sofern dem Örtlichen auch die zeitliche Bestimmung
zukommt, ist die örtliche Variation der zeitlichen gegenüber
sekundär, indem die Zeit in ihrem Verlaufe das primäre
Kontinuum für die Ausdehnung des Körpers vom Anfang
bis zum Ende der Zeit als ruhenden oder mehr oder minder
bewegten abgibt.
Besonders bemerkenswert ist, daß sohin das Räum-
liche, in Rücksicht darauf, daß es zeitlich ausgedehnt ist,
am Charakter des sekundären Kontinuums teilhat, mag es
bewegt oder ruhend gedacht werden, AVenn es ruht, so er-
scheint es nach seiner zeitlichen Dimension in voller Teleiose,
wenn es sich bewegt, in unvollkommener, und bald in gleich-
mäßiger, bald in ungleichmäßiger nach Richtung und Ge-
scliAvindigkeit und in bezug auf einige oder alle seine Teile.
In bezug auf die Dimensionen, die dem Körperlichen in der
Gegenwart zukommen, ist zu sagen, daß der Körper drei-
dimensional ausgedehnt ist, obwohl, weil zeitlich, einem
zeitlich ausgedehnten Vierdimensionalen als dreidimensionale
Grenze zugehörig. Nach jeder seiner drei Dimensionen hat
er den Charakter eines primären Kontinuums.
21. Wir hörten schon, daß nach Brentano das Zeitliche
nichts anderes sei, als das Reale oder Ding als solches. Es ist
daher, ihm zufolge, weder richtig, daß es nur eine Zeit, genauer
gesagt ein Zeitliches, gibt, noch richtig, daß alle Zeiten, genauer
gesagt alle Zeitlichen, nur einen Zeitpunkt als Grenze haben,
nach der sie bestehen. Es gibt vielmehr so viel Zeiten, d. h.
Zeitliche, als es Dinge gibt. Jene Zeitlichen, die Körper
sind, sind vierdimensionale Kontinua, welche einer drei-
dimensionalen Grenze nach bestehen. Diese Kontinua sind
substanzielle Kontinua. Lagrange hatte schon gesagt,
daß der Mechaniker die Zeit wie eine vierte Dimension des
Raumes betrachten könne. In neuester Zeit hat man mit
der Behauptung, Raum und Zeit bildeten zusammen ein Vier-
dimensionales, viel Aufhebens gemacht. Das Wahre an der
Kraus, Frnns Brentano. -i
50
Sache ist dies: es (j^il)t so viele Zeiten als Zeitliche und wie
ein Geist, der eine Substanz ohne Ausdehnung ist, eben
darum unausgedehnte Grenze innerhalb des zeitlichen
Kontinuums ist, dem er, insofern er wirklich ist, als Grenze
angehört, so ist ein K(')rper, flu er, soweit er in Wirklich-
keit besteht, dreidiinensiona] ist, die dreidimensionale
Grenze, nach welcher das zeitliche Kontinuum besteht,
welchem der Körper als Grenze zugehört. Es begreift sich
nun, warum für Brentano das Kontinuitäts- und Zeitproblem
im Mittelpunkte seines Denkens gestanden ist: fällt doch
der Begriff des Zeitlichen mit dem des Dinges oder Realen,
insofern es substanziell determiniert ist, zusammen ! Jede Sub-
stanz besteht als Grenze eines eindimensionalen })rimären
Kontinuums, welches keiner andern seiner Grenzen nach
ist und dem sie docli wahrhaft zugehört und von dessen
sämtlichen anderen Grenzen sie als spätere oder frühere
oder als spätere und frühere absteht.
Allen Kontinuis kommt gemeinsam zu, daß mit ihnen
gedanklich ins Unendliche Teilungen vollzogen werden können,
und indem man so zu kleinern und kleinern Teilen gelangt,
findet man, daß das ganze Kontinuum und jeder Teil von
ihm mit indefinit kleinen Teilen abschließt. Die Grenze
verlangt wohl die Zugehörigkeit zu einem Kontinuum, aber
nicht zu einem Kontinuum von einer bestimmten, wenn
auch nocli so klein angegebenen Größe. Daß dieses Kon-
tinuum trotz seiner indefiniten Kleinheit ins Unendliche
teilbar zu denken sei, folgt aus dem Gedanken des Kon-
tinuums überhaupt, aber doch ist keine einzige zweite
Grenze anzugeben, die zu seinem Bestände gefordert wäre.
In dieser unbestimmten Kleinheit zum Bestände der Grenze
erforderlich, bedingt es auch die Natur derselben: Jeder
innere Grenzpunlct einer geraden Linie, eines Kreisbogens,
einer Parabel u. dgl. ist infolge der Zugehörigkeit zu einer
Linie dieser Ai't eigentümhch anders charakterisiert und
unter Umständen, z. B. bei einer ungleichmäßig gekrümmten
51
Linie, vielleicht beträchtlich anders nach der einen und
anderen Seite.
22. Wir können diese x4.ndeutmigen über Brentanos
Kontinuitätslehre nicht verlassen, ohne einer besonders wich-
tigen Unterscheidung zu gedenken: der von kontinuierlich
Vielem und von kontinuierlich Vielfachem. Jeder Körper
ist ein Beispiel für das erstere; der Körper ist eine Einheit,
die sich in eine Vielheit zerlegen läßt, ja es könnte nach
Vernichtung des einen Teiles der andere ganz als das, was
er war, fortbestehen. Man könnte ihn darum ebensogut eine
Zweiheit als eine Einheit nennen, ja sagen, daß er eine
beliebig große Zahl von Körpern sei. Jeder von den bei
einer solchen Zerlegung unterschiedenen Teile hat mit den
anderen nichts gemein.
Anders der ein kontinuierlich Vieles Anschauende.
Einer, der ein räumlich Ausgedehntes anschaut, ist nichts
Einfaches, sondern etwas A'ielfaches, insofern er nicht bloß
einen, sondern viele Teile eines Kontinuums anschaut und
fortfahren könnte, den einen zu schauen, während er den
andern zu schauen aufhört, aber er stellt sich, insofern er
den einen Teil anschaut, nicht als etwas total anderes dar,
als insofern er den anderen Teü anschaut. Wir haben nicht
eine Zweiheit vor uns, wie in dem Falle, wo es ein anderer
wäre, welcher diesen, und ein anderer, welcher jenen Teil
anschaut. Wir haben es nicht mit einer Addition von Ein-
heiten zu tun,i sondern mit der Vielfachheit eines Einheit-
lichen. Diese Bemerkung ist für die Psychologie von großer
Tragweite. Aristoteles ist durch Verkennung dieses Unter-
schiedes zu seiner halbmaterialistischen Seelenlehre gekommen,
indem er aus der räumlichen Ausdehnung der Sinnesobjekte
auf eine räumUche Ausdehnung des Empfindenden schloß.
Der Blick auf das, was bei dem, der im gleichen Moment
ein zeitliches Kontinuum vorstellt, gegeben ist, hätte ihm
zeigen kömien, daß nicht jeder Teil eines angeschauten
" i^VETlToben S. 46.
52 ■
Koiitiiiiiunis von cinciii ;ni(lfrn Teil eines anschauenden
Kontinuums angeschaut werden muß. Auch einem un-
ausgcdchnten Ding kann wie eine Vielfachheit verschiedener
Ak/idonzion auch ein kontinuierlich vielfacher Modus (Ak-
zidenz) zukoniiiicn. .l;i iiiil der Einheit des Bewußtseins ist
es schlechterdings unverträglich, die sinnlichen Tätigkeiten
Teil für Teil verschiedenen Teilen eines Subjektes zu-
kommen zu lassen und ebenso ist die Lehre von der teil-
weisen geistigen, teilweise körperlichen Seele mit der Ein-
heit des Bewußtseins nicht zu vereinbaren. — Dagegen
erklärt es Brentano nicht als unmittelbar durch die innere
Erfahrung gesichert, daß das Subjekt unseres psychischen
Lebens geistig sei; i das denkende Ding, .als das wir uns
wahrnehmen, könnte etwas körperlich Ausgedehntes sein,
dem das Denken in der "Weise zukäme, wie das Rote einer
Fläche über die es gleichmäßig ausgebreitet ist, wo das Rot
Punkt für Punkt sich wiederholt, so daß das ganze einheitliche
Bewußtsein jedem Teil und Punkt des Körperücben wieder
und wieder zukommen würde. Die Zerfällungserscheinungen
bei niederen Tieren verleihen der Hypothese einer solchen
indefiniten Vielheit von punktuellen Subjekten zunächst einen
o-ewissen Grad von Wahrscheinlichkeit und es bedarf be-
sonderer Überlegungen und sorgfältiger Berücksichtigung
physiologischer Forschungen, um die Frage hinsichtlich
des hochdifforenzierten menscldichen und höheren tierischen
Gehirns zu verneinen. Spricht alles dafür, daß bei unserem
Denken verschiedene Teile des Gehirns unserem Denken
verscliiedene Dienste leisten, so ist darin ein Beweis dafür
» Über die Frage der Immateiialität der Seele und die Wechsel-
wirkung handeln mehrere Manuskripte; eine Abhandlung „Zur Wür-
digung der Puntini del corso obbligatorio d" anatomia" mit zwei Nach-
trägen, in Florenz verfaßt, und ein Entwurf für einen Vorlesungs-
zyklus, den Brentano in Zürich vor mehreren Freunden 1915
gehalten hat, dürften, von den Kollegien abgesehen, hier besonders
in Betracht kouunen.
53
zu erbKcken, daß ihr Dienst nicht darin besteht, daß sie
selbst das Subjekt des Denkens sind, sondern es in einem
anderen unkörperlichen Subjekte bedingen. — Es hängt mit
der Täuschung über die indi\äduelle Unbestimmtheit des
innerlich Wahrgenommenen 1 zusammen, daß manche sich den
BoAveis der Unkörperlichkeit als etwas ganz Leichtes vor-
stellten, so Cicero, wenn er darauf hinwies, daß kein Urteil
rund oder ^äerecldg sei oder Pascal, wenn er fragt: Was
denkt in uns, der Daumen oder irgendwelches andere GKed?
— Erst nachdem die Frage nach der Unkörperlichkeit des
seelischen Subjektes beantwortet ist, wird die Frage nach
deren Unzerstörbarkeit und, von dieser gesondert, die nach
dem Wiedererwachen der seehschen Tätigkeit, die mit dem
Tode erlischt, in Angriff genommen. Die daran geknüpften
Hoffnungen auf einen unendlichen Fortschritt können freilich
nur im Zusammenhang mit der Gottes- und Optimismus-
hypothese zur Erörterung gelangen.
23. Daß der Substanzbegriff, mit dem wir im Vor-
stehenden bereits wiederholt operiert haben, nach Brentano
aus der Erfahrung geschöpft ist, bedarf keiner weiteren
Auseinandersetzung. Es ist kein anderer als der des letzten
Subjektes, wie ihn sowohl die äußere als die innere Erfahrung
bietet. Substanz ist, was kein weiteres Subjekt hat. Und
das Verhältnis von Substanz und Akzidenz ist ein wahres
Verhältnis von Teil und Ganzem. Die Substanz ist in dem
Akzidenz als Teil enthalten. Beachtenswert ist hierbei, daß
dieser Teil sich zum Ganzen erweitert ohne Addition ^ eines
zweiten Teiles! Danach wird es auch klar, wie man zwischen
substanzieller und akzidenteller Bestimmunp; zu scheiden
habe: zu den substanziellen Bestimmungen gehört jede,
ohne welche eine Substanz schlechterdings nicht sein könnte
— die also nicht ohne jeden Ersatz entfallen kann. Und
so ist es denn, so gewiß eine körperliche Substanz nicht
1 Vgl. oben S. 34 f.
2 Vt?!. oben S. 51 u. 46.
54 =____
ohne AusdcliiiuiiL^, licknlisrition und Gestalt sein kann, sicher,
(laß (licsü l>cstiimmingcn — zu denen noch die zeitliche
kommt — substanzielle Bestimmungen des Körperlichen sind.
Die substanziellon Bestimmungen, die zur Natur des Körpers
gehören, sind durch die Raum- und Zeitbestimmungen voll-
ständig erschöpft. Betrachten wir das pliänomenal Gegebene,
so sind also Farben, Töne, Spürqualitäten (das Farbige, das
Tönende, kurz das (Qualitative als solches) Akzidentien, da-
SOfren sind die llauinbcstiminungen substanziell. In der
transzendenten wirklichen Körperwelt, bei den körperlichen
Dingen, würden sich danach die physikalischen und chemi-
schen Eigenschaften usw. sämtlich als Alvzidentien erweisen.
Was die innere Erfahrung anlangt, so treten uns bei
jeglichem Bewußtsein akzidentelle Bestimmungen entgegen:
sie können ohne Ersatz entfallen. Wenn einer, der sieht
und hört, aufhört zu sehen, so verliert er dadurch nicht alle
Individuation, er wird nicht zu einem Universale, wie es
geschehen müßte, wenn das Sehen zur logischen Be-
stimmuno; des Individuums gehören würde. Er bleibt nach
diesem Entfall, als Hörender individuell derselbe. Und ähn-
lich ist es umgekehrt. Dabei ist es aber doch offenbar, daß
dieser Sehende zu diesem Hörenden in einer anderen Be-
ziehung steht, als zu einem anderen Hörenden, und dieser
Unterschied besteht darin, daß dort der Sehende und
Hörende nicht ganz verschieden, sondern nur teilweise ver-
schiedene Reale sind, — sie sind nicht eigentlich zwei
Akzidentien, sondern ein zweifaches Akzidenz — während
man es im anderen Fall mit zwei total verschiedenen Realen
zu tun hat. Der den ersteren gemeinsame Teil ist nun aber
das Subjekt, d. h. die Substanz.
24. Brentano ist der Überzeugung, daß alle physi-
kalischen und chemischen Erfahrungen sich ebenso leicht
unter der Hypothese begreifen ließen, daß es sich bei alle-
dem um bloße alczidentelle Verhältnisse und Umwandlungen
handle. In einer kloinen Abhandlung: zur Lorenz-Einstein-
55
Frage weist Brentano auch auf die Vorteile hin, welche
sich aus dieser Auffassung ergäben. Setzte seinerzeit Lord
Kelvin an die Stelle von Atomen Wirbel, die in einem voll-
kommenem Fluidum statthätten, so denkt Brentano alle
ponderable Materie, Atome und die Elektronen als Modi
(Akzidentien, Qualitäten) einer einheitlichen, ruhenden Sub-
stanz, die an die Stelle des Äthers zu treten hätte. Diese Modi
oder Akzidentien (Eigenschaften), die in sehr kleine Parzellen
geteilt gedacht werden können, wären also als dasjenige
anzusehen, was man bisher als Substanz der körperlichen
Materie betrachtet hat, während sie nunmehr an der zu-
grundeliegenden Substanz haftend, von einem Teil auf einen
anderen übergingen und selbst wieder Eigenschaften unter-
liegen würden (Akzidentien von Akzidentien). Auf ihren
Stellenwechsel und auf ihr ruliiges Beharren bezögen sich
die Gesetze der Mechanik. Es stände nichts im Wege, zwischen
ihnen an der Substanz Stellen anzunehmen, wo sie von jedem
Akzidenz frei wäre. Auch Undurchdringlichkeit käme ihnen
zu. Sie wäre als Inkompatibilität verschiedener Q,ualitäten
an der gleichen Stelle der Substanz zu fassen usw. Licht-
strahlen und elektrische Strahlen wären also gleichfalls als
Modi zu begreifen, die von einem Teil des Äthers — wenn
man diese ruhende Substanz so nennen will — zum anderen
sich fortpflanzten und auch von andern Strahlen, welche
die Gravitation erklären sollen, würde dies gelten. Die
Substanz, die als die einzige zurückbhebe, wäre von den
mechanischen Gesetzen gar nicht getroffen. „Wenn ein System
von (Qualitäten in seinem Schwerpunkte ruht, oder sich gerad-
linig fortbewegt, so ändert der Umstand, daß die Substanz
in beiden Fällen gleichmäßig ruht, nichts, was eine Ver-
änderung des relativen Verlaufs der qualitativen Verschie-
bungen an ihr zur Folge haben könnte. Sie selbst zählt ja
nicht mit unter die qualitativen Komponenten, welche allein
das sind, wofür die physikalischen Gesetze und insbesondere
die Gesetze der rationellen Mechanik gelten."
56
Aber noch andere und eminentere Vorteile verspricht
sicli Brentano von dieser Auffassung: die Dispersion der
Eneigie Avürde infolge der Begrenzung der den 'Qualitäten
zugrundeliegenden Substanz vermieden, die Gravitation könnte
auf Stöße zurückgeführt Averdcn, die Reversion der Entropie
Wcäre denkbar, während die Entrüi)ie sonst, wenn nicht in
andei'er Weise doch in einer fortschreitenden Dispersion un-
\'ermeidlich Aväre, olme fortwährende neue transzendente
Eingriffe an der AVeltgrenze.
25. Die neuen Wege seines Forschens mußten Brentano
zu einer Kategorienlehre führen, die der aristotelischen in
fundamentalen Punkten widers[)richt. Nachdem er erklärt,
daß alles, was wir zum Objekte des Denkens machen, in
gleichem Sinne ein Reales zu nennen sei, entfällt die Möglich-
keit, mit Aristoteles von Kategorien, als höchsten Gattungen
des Realen zu sprechen, deren jede uns ein Reales in anderem
Sinne zeige. ^ Dagegen bleibt wahr, daß das, was von einer
einfachen Substanz ausgesagt wird (was ihr als Prädikat
beigelegt wird), nicht alles in demselben Verhältnis
zu ihr steht. Das eine Mal ist es selbst eine substanzielle
Bestimmung und bezeichnet ein Reales, welches mit der
einfachen Substanz, von der es prädiziert wird, identisch
ist. Das andere Mal bezeichnet es ein Akzidenz, welches
die einfache Substanz als Teil in sich beschließt. Dieses
Insich-Beschließen ist — wie wir oben sahen — ein anderes
als bei einem Kollektiv von Substanzen, welches eine ein-
fache als Element enthält. Wir sagen, es enthalte das Ak-
zidenz die Substanz als sein Subjekt. Aber auch zwischen
Akzidenz und Akzidenz kann in bezug auf die Weise, wie
sie die Substanz als Teil enthalten, noch ein Unterschied
bestehen und ein solcher scheint da anzunehmen, wo Avir
es mit einer Beschaffenheit (Qualität) und wo wir es mit
^ Vgl. hierüber die aristotelischen Schriften Brentanos ins-
besondere „Von der mannigfaclien Bedeutung des Seienden nach
Aristoteles" und „Aristoteles und seine Weltanschauung".
57
einer Passion zu tun haben, da bei der letzteren — neben
dem Einfluß des Subjektes zur Erhaltung des Akzidenz —
eine fortwährende Abhängigkeit von dem sich zeigt, Avas
wirkend das Akzidenz erhält. Die Beschaffenheit, z. B. eine
tugendhafte Eigenschaft, hört durch Umwandlung von
Akzidenz zu Akzidenz auf, die Passion nicht. Selbst wenn
Passion auf Passion folgt, entsteht die Nachfolge nicht durch
Umwandlung aus der vorhergehenden, diese hat nichts zu
ihrem Entstehen beigetragen, AA-ie z. B. bei einer Tonfolge
das nachfolgende Hören durch Reizung der Gehörnerven
geradeso eingetreten wäre, wenn vorher Stille geherrscht
hätte. Von den Relationen haben wir schon gesagt, daß
sie nach Brentano reale und zwar teils substanzielle, teils
akzidentelle Bestimmungen sind. Auch daß er — im Gegen-
satz zu Aristoteles • — Akzidentien von Akzidentien lehrt,
ist schon bemerkt worden. Auch die Leugnung des aristote-
lischen Grundsatzes, es könne eine rämnlich ausgedehnte
Substanz keine Teile haben, die in Wirklichkeit etwas Reales
sind, haben wir schon hervorgehoben. ^
Unter die Kategorien fallen nach Brentano alle Gegen-
stände unserer Anschauung, mag dieselbe eine äußere, auf
Nicht-Psychisches bezügliche oder eine auf Psychisches bezüg-
liche sein, wozu außer den Innern Anschauungen auch die Ge-
dächtnisanschauungen und andere primäre, welche dieselben
Elemente wie die inneren Anschauungen aufweisen, gehören.
— Und in den innern und äußern Anschauungen sind die
Elemente gegeben, welche das ganze Material unserer Denk-
objekte ausmachen. Daher irrt Kant, wenn er dazu noch
gewisse andere Elemente rechnet, welche nicht den An-
schauungen entnommen seien, wie die sog. Stammbegriffe
des reinen Verstandes. Vielfach handelt es sich dabei um
nichts als Ausdrücke für entia rationis. Ja, man kann sagen,
bei allen sei es so, insofern er sich abstrakter Ausdi'ücke,
wie z. B. Subsistenz und. Inhärenz und nicht Substanz \md
' Vgl. „Aristoteles und seine Weltanscliauung" S. 26 u. 36,
58 ____________^__^____^_
Akzidenz bedient. Wenn es einmal festgestellt ist, daß alle
Elemente unserer üenkgegenstände aus Anschauungen ent-
nommen sind, so kann an eine vollständige Ubersiclit über
dieselben gedacht werden, wie sie schon Locke und Leibniz
verdienstvoll in Angriff genommen haben. Daß man Bren-
tano aus dieser seiner Lehre vom Ursprung aller unserer
Begriffe den Vorwurf eines methodischen Fehlers macht
(Psychologismus) ist merkwürdig genug, um hier noch einmal
angemerkt zu werden.
20. Zur Klärung der herrschenden Meinung über Bren-
tanos „Psychologismvis" wird die Veröffentlichung seiner
Axiomatik beitragen. Auch hier liegen eine ganze Reihe
von Entwürfen und Redaktionen vor. Die Natur der apo-
diktischen („apriorischen") Erkenntnis, die man eine un-
mittelbare ex terminis nennt, wird eingehender untersucht,
als dies bisher in der Psychologie und Erkenntnistheorie
der Fall war.
Seiner Lehre getreu macht Brentano darauf aufmerksam,
daß, wer glaubt ein Axiom zum Objekte zu haben, stets nur
einen axiomatisch Urteilenden zum Objekt haben kann.
„Sätze an Sich", „Gesetze", „ewdge AVahrheiten" sind keine
Realitäten und sind überhaupt nicht. Jeder axiomatisch
Urteilende urteilt, sofern er dies tut, negativ, apodiktisch,
evident und zugleich aiif Grund evidenter innerer Wahr-'
nehmung gewisser Vorstellungen von zusammengesetzten
Objekten. So z. B. muß derjenige, welcher das Kontradiktions-
gesetz urteilt, wahrnelimen, daß er einen kontradiktorisch
richtig Urteilenden vorstellt und dies *fülirt ihn dazu, ihn
apodiktiscli zu verwerfen. Daß uns irgendeine affirmative
apodiktische Erkenntnis zuteil werde, leugnet Brentano.
Lange verweilt er bei der Frage, ob alle Axiome den Cha-
rakter des Kontradiktionsgesetzes tragen, oder ob es auch
andere Ty])en gebe? Er neigte schließlich ganz entschieden
zur Verneinung dieser Frage, d. h.*er glaubte, daß es sich
in allen Fällen, wo wir ein allgemeines Prinzip a priori auf-
^^ 59
stellen können, um nichts als eine Vereinigung von unter-
scheidender Analyse und Applikation des Kontra-
diktionsgesetzes handle. Von diesem Gesichtspunkte aus
prüft er auch Martys Einteilung in Axiome des Aus-
schlusses, der notwendigen Verknüpf ung und der Äquivalenz,
wie sie in dessen Buche über Raum und Zeit vorgetragen
wird. Aus den wiederholten Formulierungen des Kontra-
diktionsgesetzes sei eine der letzten hier angeführt: „Es ist
unmöglich, daß einer, der etwas leugnet, was einer richtig
anerkennt, es richtig leugnet, sowie auch, daß einer, der
etwas anerkennt, was einer richtig leugnet, es richtig an-
erkennt, vorausgesetzt, daß beide es mit demselben Modus
des Vorstellens und mit demselben Modus des Urteilens
beurteilen."
Analog formuliert Brentano ein Gesetz des Antagonis-
mus (Widerstreites) auf dem Gebiete der Gemütstätigkeiten:
„Es ist unmöglich, daß einer, der etwas liebt, was einer
richtig haßt, es richtig liebt, sowie auch, daß einer, der
etwas haßt, was einer richtig liebt, es richtig haßt, voraus-
gesetzt, daß beide es mit demselben Modus des Vorstellens
und demselben Modus der Gemütstätigkeit zum Objekte
haben." Aus diesen beiden Sätzen erhellt, daß nach Brentano
sowohl die Allgemeingültigkeit, die „Objektivität" unserer
Erkenntnisse, als auch unserer in sich gerechtfertigten
"Wertungen a priori gesichert ist.
In einer Reihe von Aufsätzen gibt Brentano eine
Zusammenstellung der wichtigsten Axiome und apriorischen
Thesen (Konklusionen aus lauter Axiomen). Es finden sich
unter ihnen sowohl solche, die das Physische, als auch solche,
die das Psychische betreffen, in großer Menge. Nicht wenige
von ilmen wurden bisher niemals formuliert. Da Brentano
Sätze wie: Kein Vorstellen ohne Temporalmodus, keine
Gemütsbeziehung und kein Urteilen ohneVorstellen, kein Urteil
ohne Qualität, keine Gemütsbeziehung ohne Lieben oder
Hassen, kein primäres Bewußtsein ohne sekundäres, nichts
60
kann /um r)l)je]<t <j;cma('lif worden, was nicht real ist, keine.
Liehe zur p]rkcnntnis, die niclit gerechtfertigt wäre, keine
richtige Freude, die nicht zu lieben gerechtfertigt wäre,
kein ex terminis evidentes Erkennen, das nicht negativ
wäto usw . nsw. nls Axiome erklärt, so ergibt sich, daß er
nunmehr k-einosfalls die „deskriptive Psychologie" (Psycho-
gnosie) in dem Sinne für empirisch gehalten hat, daß alle
ihre Gesetze durch Induktion gefunden Avürden. Die Er-
kenntnis solcher Gesetze entspringt vielmehr aus Pjcgriffen,
denen allerdings die Empirie der betreffenden Erlebnisse
zugrunde liegt. Hierbei aber können die Methoden der
induktiven Forschung, z. B. das Experimentieren, die er-
sprießlichsten Dienste leisten, schon wenn es gilt die kon-
fuse Perzeption zur distinkten Apperzeption zu erheben,
was besonders auf dem Gebiete der Sinnespsychologie der
Fall ist. Ohne weiteres ist ferner aus dem Gesagten zu er-
sehen, daß Brentano auch eine Wertaxiomatik kennt, d. i.
eine Reihe von apodikitschen unmittelbaren Erkenntnissen
über unmittelbar als gerechtfertigt (richtig, normgebend)
charakterisierte Wertungen.
"VTie die arithmetischen so erklärt Brentano auch die
geometrischen Axiome für apriorische Sätze, die den Charakter
des Kontradiktionsgesetzes tragen. Brentaiio ist der Ansicht,
daß aus der Vorstellung von etAvas Rämnlichen, wie es jedem
als vorgestellt gegeben ist, der auch nur die Vorstellung einer
räumlichen Grenze, eines räumlichen Punktes hat, analytisch
die sämtlichen Axiome und Postulate gewonnen werden
können. Die Lehre Kants Avird hierbei im einzelnen be-
rücksichtigt und kritisiert. Was die Kontinuitätsaxiomatik
im allgemeinen anlangt, so spricht Brentano auf Grund
seiner Untersuchungen und Begriffsbestimmungen auch hier
eine ganze Reihe A^on Axiomen bezAV. apriorischer Thesen
aus, AV'ie z. B.: Kein Teil eines Kontinuums, Avelches ein
einheitliches Ding ist, ist ein Ding für sich, Keine Grenze
ist ein Ding für sich, auch dann nicht, wenn das, dem es
61
als Grenze angehört, nur dieser Grenze nach existiert. Jede
Grenze hat eine vollkommene oder unvollkommene Plerose.
Jede Grenze hat eine Teleiose. Jedes primäre Kontinuum
hat eine unvollkommene, aber konstante Teleiose; in jeder
Gattung sekundärer Kontinua ist eine vollkommene Teleiose,
sowie auch jeder Grad unvollkommener Teleiose denkbar.
Alle Körper sind undurchdringlich. Zwischen zwei Punkten
sind nur einfache Punkte möglich. Zwischen zwei Qualitäten
wie rot imd blau, warm und kalt, wie auch zwischen solchen
heterogenen Qualitäten ist keine mittlere Qualität möglich. Von
einem Punkt können in der Richtung, in welcher ein anderer
von ihm absteht, noch Aveitere in beliebig größerer Entfernung
abstehen. Keine räumliche Ausdehnung ohne Differenzierung
der Teile als Dinge, die nicht für sich sind. Es kann nichts ohne
irgendwelche reale Differenziermig fortdauern, selbst den Fall
vollkommener Ruhe nicht ausgenommen. Es könnte sonst
von einer zeitlichen Länge nicht die Rede sein usw. usw.
27. Wiederholt haben wir Brentanos Wertaxiomatik
gestreift. Es ist die „Schrift vom Ursprung sittlicher Er-
kenntnis" aus dem Jahre 1889, auf die hier alles zurück-
geht. Obgleich dieses kleine Buch bis heute keine zweite
Auflage aufzuweisen hat, sind doch mächtige Impulse von
ihm ausgegangen. Aus meinem Sammelreferate über „Die
Grundlagen der Werttheorie" in den „Jahrbüchern der Philo-
sophie" 1914 ist der bedeutende Einfluß der Brentanoschen
Lehre auf die moderne .Wertliteratur zu ersehen. Auch
diese Publikation, wie die meisten Brentanos, war eine Ge-
legenheitsschrif t : In einem kurzen Vortrage nebst einigen
Anmerkungen hat er hier die Ergebnisse jahrelangen
Nachdenkens zusammengefaßt, wie er selbst sagt „als das
gereifteste Erzeugnis" unter allem, was er bisher veröffent-
licht hatte. In diesem Rahmen konnte nur das Prinzipiellste
geboten werden, der Ausbau, die Abwehr von Einwendungen,
die Ableitung der sekundären ethischen Normen und der
Rechtspflichten war darin eben nur angedeutet. Spätere
62 .=_================.======^
Forschungen J>rcntanos haben den Kern der Untersuchung
unberührt gelassen. Eine Korrektur der Lehre von der als
richtig charakterisierten Bevorzugung ist in der biographischen
Skizze, die Marty der englischen Übersetzung des Buches
beigegeben hat, mitgeteilt. In Marty s Gesammelten Schriften,
l>d. T, Abteilung 1, S. 100 ist sie verdeutscht enthalten: um
zu der Erkenntnis der Vorzüglichkeit der Summe gegenüber
dem Summanden zu gelangen, muß, was Brentano anfangs
verkannte, die Erfahrung einer als richtig charakterisierten
Bevorzugung uns den Weg erschließen. Ebenso hat Bren-
tano erst nach der Veröffentlichung des „Ursprungs sitt-
licher Erkenntnis" ausdrücklich herv^orgehoben, daß die als
richtig charakterisierten Akte von Liebe und Haß denjenigen
unter den als richtig charakterisierten unmittelbaren Urteils-
akten vergleichbar sind, die als Vernunftwahrheiten apo-
diktisch einleuchten. Nicht die unmittelbar evidenten
Wahrnehmungen, sondern nur die Axiome sind aus den
Begriffen einleuchtend, werden somit von den Begriffen
(d. i. von den die Begriffe Denkenden als solchen) bewirkt,
und ähnlich wie sie entspringen die unmittelbar als richtig
charakterisierten Gemütsakte aus den Begriffen. Nur weil
es sich um Akte handelt, die durch die Vorstellungen moti-
viert sind, haben auch die Prinzipien athischer Erkenntnis
apodiktischen Charakter. Eine Liebe, die zu einem psychischeil
Akte gehörig, auf ihn als sekundäres Objekt gerichtet ist,
ist nie als richtig charakterisiert. Ihre Eichtigkeit ist
nur durch ihre Übereinstimmung mit primären Beziehungen
erkennbar. Aus dem Begriffe des Erkennenden, des lustvoll
Affizierten, des in rechter Weise Fühlenden oder Wollenden
also, entspringt die als richtig charakterisierte Liebe, aus
den Begriffen des Schmerzempfindenden, des intellektuell
Irrenden und des emotionell unrichtig sich Verhaltenden
entspringt das in sich berechtigte Hassen dieser seelischen
Tätigkeiten. Und ganz so ist zu sagen, daß die berechtigte
Bevorzugung des Erkennenden vor dem Irrenden, der richtigen
63
Wertung vor der unri(5htigen, der größeren Gütersumme vor
der Ideineren — bezw., avo es sich um „Übel" handelt, um-
gekehrt — durch die diesbezüglichen Begriffe motiviert AAärd.
Die Enthüllung der „"Werte", „Wertverhalte", „Güter",
„Übel" und dergleichen als sprachliche Fiktionen ändert
nichts an dem Grundgedanken, sondern nur an deren Formu-
lierung. FreiHch tritt nun klar hervor, daß es sich bei Wert
und Unwert nicht um Eigenschaften oder relative Bestim-
mungen der Dinge handelt, ebensowenig wie bei Existenz
(dem „Bejaht- oder Anerkannt-zu-werden-verdienen"). Ich
erkenne ein Ding als gut oder wertvoll, ich erkenne den
Wert eines Dinges heißt nichts anderes als ich erfasse meine
AVertung dieses Dinges als „wie sie sein soll", als richtig
oder gerechtfertigt. Sage ich allgemein, ein Ding sei gut,
so will ich sagen, es sei unmöghch, daß ein es Liebender
(Wertender) es unrichtig werte. Es handelt sich also um
apodiktische, allgemein gültige Erkenntnisse, zu denen ich
auf Grund von Begriffen gelange, die aus der Erfahrung
gewisser als berechtigt charakterisierter AYertungen und
Bevorzugungen geschöpft sind. So wird z. B. die Begriffs-
kombination: „Erkenntnis-Liebender, der unrichtig wertet"
ex terminis verworfen. Ein rein intellektuelles Wesen könnte
zu diesen Axiomen nie gelangen. — Mit den Worten „als
richtig charakterisiert" wollte Brentano nichts anderes zum
Ausdrucke bringen, als daß es sich um solche Akte handelt,
die als ideal, normgebend, „wie sie sein sollen", keiner
Rechtfertigung bedürfen, vielmehr Kriterium, Maßstab für
die anderen sind. Gleichwie ein Urteil als irrig erkannt
wird, wenn es einem einsichtigen, d. i. normativen, wider-
spricht, so wird eine Gemütstätigkeit als verkehrt oder un-
richtig erkannt, wenn sie einer „als richtig charakterisierten",
d. i. normativen, entgegengesetzt ist, also liebt, Avas jene
haßt, bevorzugt, was jene nachsetzt und umgekehrt. i
^ Es ist eine groteske Verballhornung der Brontanoschen Lehre,
wenn Höfler an dem erwähnten Orte ihr zuschreibt, sie kenne auch
04 ____^,__,___,_======__=
28. Unscliwer ist es nun /.u wlvonnen, wie man von
dieser Grundla^^c zum höchsten jjraktischen Prinzipe auf-
steigt. Es bedarf hierzu nur noch der Erfalirung von der
Zweck Wirksamkeit des eigenen Verlangens — der Macht,
das Gewünschte zu verwirklichen — um erkennen zu lassen,
daß unmöglich einer, der das Vorzüglichste unter dem Er-
reichbaren (den größten Hoffnungswert) wählt, unrichtig
wählt. — AN'cr also das Erreichbar-Beste sich zum Ziele
setzt, ents])richt dem wahren kategorischen Imperativ —
oder besser gesagt: dem höchsten apodiktischen praktischen
Prinzipe.
In die Einzelheiten der ethischen und politischen Vor-
lesungen und Doktrinen Brentanos kann hier unmöglich ein-
o-egano-en werden. In der Innern PoHtik bekundete Brentano
die entschiedene Neigung, die Aufgabe des Staates auf den
als „nichtrichtig charakterisierte" Gemütsakte. Warum denn nicht aucli
„als unrichtig charakterisierte Urteile", also einsichtige Irrtümer?
Höfler bemerkt weiter, er habe sich mit dieser Lehre Brentanos darum
nie befreunden können, weil man doch jemanden, der schlechthin den
Irrtum der Erkenntnis vorzöge, noch nicht unsittlich oder unethisch
nennen würde. Das hat Brentano auch nicht behauptet; wohl aber
liegt es in der Konsequenz seiner Gedanken, daß jemand, der den
Wert der Erkenntnis, ihren Vorzug vor dem Irrtum, dann weiter die
Vorzüge der anderen seelischen Güter und insbesondere den Vorzug
ihrer Summierung und Ausbreitung schlechthin nicht zu erkennen
imstande ist, also jede Wert- und Vorzugserkenntnis entbehrt, als
mit moral insanity behaftet, aus der Eeihe der Zurechnungsfähigen
ausscheide. Unethisch ist das Wollen desjenigen, der, obgleich er das
praktisch Bessere erkennt, sich — in unentschuldbarer Weise — nicht
von dieser Erkenntnis in seinen Entschlüssen bestimmen läßt. Näheres
hierüber findet der Leser in meinem Buche „Das Hecht zu strafen",
Stuttgart 1911, in meinem Aufsatze „Der Begriff der Schuld" in der
Monatsschrift für Kriminalpsychol'ogie IX. Jahrg. und in dem Artikel
„Die Grundlagen der Werttheorie" in den Jahrbüchern der Philo-
sophie 1914. Allerdings habe ich damals den fiktiven Charakter der
„Inhalte", „Wertverhalte", „Objektive" noch nicht erkannt. Eine kurze
Skizze der Brentanoschen Lehre nach ihrem fortgeschrittensten Stande
habe ich zum Brentanoheft der pädagogischen Monatshefte beigesteuert.
65
Rechtsschutz im engsten Sinne dieses "Wortes einzuschränken
und alles andere der freien föderativen Vereinigung der
Staatsbürger zu überlassen; so insbesondere auch die Schule.
Ihm zufolge sollten andere Organisationen entstehen, die
sich mit der staathchen kreuzend, die höchsten Menschheits-
aufgaben vollkommener erfüllen können. Einige seiner
politischen Gedanken sind in seiner — leider zu wenig be-
kannten — Entgegnung auf Adolf Exners Rektoratsrede
„Über politische Bildung" zu finden. i Auch in seinen ver-
schiedenen Schriften zui- eherechtlichen Frage in Osterreich.
Selbst in dem Buche „ Ai'istoteles und seine Weltanschauung"
verrät sich seine Stellungnahme zu den wichtigsten Staats-
problemen. Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß
er mit Plato und Aristoteles nur einerlei ethisches Maß
für den Einzelnen wie für den Staat gelten Keß, und den
Grundsatz „right or wrong — my country" verabscheute.
Das Ethik-Kolleg Brentanos — mir nur zum Teile aus un-
vollkommenen Nachschriften bekannt — ist mit großer Liebe
und Sorgfalt ausgearbeitet. Er hat es in Wien oft, ins-
besondere auch für Juristen, gelesen und so enthält es denn
auch ausführliche rechtsphilosophische Kapitel. Auch das
Gottesproblem pflegte er diesen Vorlesungen an- und ein-
zugliedern. Denn obgleich er, wie wohl keiner vor ihm, die
Grundlagen einer natürlichen, von jeder Autorität freien
Moral sichergestellt hat, so erkannte er doch, — wie ja
auch Schopenhauer — daß die metaphysische Grundüber-
zeugung für die praktische Frage der Lebensbejahung oder
-Verneinung von ausschlaggebender Bedeutung sei. Ob
das menschliche Leben Teil eines sinnlosen Geschehens ist,
oder ob es mit dem Ganzen der Weltentwicklvmg einem
Prozesse angehört, an dessen unendlichem Aufstieg es teil-
zunehmen determiniert ist, kann nicht ohne Einfluß auf die
Gemüts- und Willensrichtung bleiben.
29. Auch ihrem theoretischen Werte nach ist aber Meta-
' „Über die Zukunft der Phüosophic", Wien 1893.
Kraus, Franz Brentano. 5
66
physik für I>r()nt;uio die Ixichststehende Wissenschaft; ja
sie ist „Weisheit", sofern sie die erklärende Wissenschaft
xnT t^oyj'jv ist. Dies aber ist sie, sofern sie Erkenntnis des
unmittelbar Notwendigen ist und Erklärung aller Dinge durch
Rückführung auf ihre erste Ursache. Gar manches, was zur
Grundlegung einer Metaphysik im Sinne Brentanos gestört,
ist im Vorstehenden zur Sprache gekommen. Die Gefahr,
durch die Kürze und Unvollständigkeit Mißverständliches
zu sagen, begleitete mich hierbei auf Schritt und Tritt. Sie
ist aber nirgends bedrohlicher als hier, wo die Schwierig-
keiten des Problems sich mit eingewurzelten Vorurteilen
verbünden. Ich meine das Kausalitätsgesetz und das Gesetz
der universellen Notwendigkeit. Diese Fragen hauptsächlich
waren es, welche die Zweifel Humes geweckt und diese
wiederum, die den dogmatischen Schlummer Kants gestört
haben. Wer aber die Art und Weise, in welcher dessen Kritik
dem Skeptizismus die Spitze bot, mißbilhgt, ist bei der un-
gemessenen Autorität, die Kant genießt, genötigt, Lehrsatz
für Lehrsatz zu untersuchen und zu widerlegen. Brentano
hat dies wiederholt getan; in der Wiener Zeit und früher
und in seinem letzten Lebensjahre, wo er manche Partien
der „Kritik" mit fortlaufenden Randglossen begleitete. Seine
ablehnende Haltung blieb ungemindert. Manches hat er
mit gewohnter Prägnanz und Kürze da und dort bereits
ausgesprochen. Ich könnte auf die Psychologie, auf den
„Ursprung sittlicher Erkenntnis", insbesondere auf die „vier
Phasen der Philosophie" verweisen. — Dort hat Brentano
Kants „kopernikanische Wendung", wonach nicht luisere
Erkenntnis nach den Dingen, sondern die Dinge sich nach
unserer Erkenntnis richten, „als eine widernatürhch kecke
Behauptung" bezeichnet. Erwägt man, daß diese „Dinge",
sofern sie nach Kant Gegenstände unsrer Erfahrung, also
unsere „Phänomene'' sind, bloß phänomenale oder intentio-
nale, mentale Existenz haben, das heißt, wie wir oben sahen,
überhaupt nicht existieren und das einzig dabei Existierende
67
wir selbst als diese Phänomene-Hab ende sind, so erweist
sich jeder weitere Schritt auf dem Boden des Kantschen
Phänomenalismus als ein Fehlschritt. In Brentanos Lehre
von Raum und Zeit ist eine immanente Kritik der Kantschen
enthalten; sie kommt ihrer völligen Verwerfung gleich, ^"enn
sich die „synthetischen Urteile a priori" auf die Dinge oder
Gegenstände beziehen sollen, sofern sie Phänomene von uns
sind, so beziehen sie sich auf etwas, dem in keinem Sinne
des Wortes Realität zukommt. Abgesehen davon sind es
Urteile, denen man nach Kants ausdrücklicher Lehre ^ ilire
Richtigkeit nicht ansieht. Sie sind nicht evident. Sind sie
aber dies nicht, so sind sie, wie schon Überweg sagte,
„Yorurteile", die als blind und einsichtslos den Namen Er-
kenntnis ohne Berechtigung sich anmaßen. In den „vier
Phasen" bemerkte Brentano: „Sind die synthetischen Urteile
a priori etwas, was wir blind glauben müssen, so ist das
Dasein Gottes, so ist die Unsterblichkeit der Seele, so ist
die Freiheit des Willens etwas, was wir bhnd glauben sollen.
Sie sind Postulate der praktischen Vernunft; Einsicht in
ihre Wahrheit besitzen wir keine. Aber wenn Nikolaus
Cusanus seinem „Intellectus" ein unbegreifHches Begi'eifen
zuschrieb, so, scheint es mir, können wir sagen, daß Kant
seiner „praktischen Vernunft" ein unglaubliches Glauben
zumutet. Alles was bei ihm von Mitteln gegen den Skepti-
zismus in Anwendung gebracht wird, ist so widernatürlich
verschroben, wie es jedesmal in der Zeit der Reaktion gegen
das zweite Stadium des Verfalles zu sein pflegt." — Das
Erkenntnissurrogat eines logisch nicht zu rechtfertigenden
Glaubens anzunehmen, ist einer Philosophie, die Wissen-
schaft sein will, im Innersten zuwider, und Brentano hatte
sich nicht von dem Offenbarungsglauben losgesagt, um sich
einem Postulatenglauben zu verschreiben. Das mystische
Verfallsstadium der deutschen Philosophie hebt mit den
1 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, Kehrbachsche Ausgabe (bei
Eeclam) S. 153.
5*
68
Si>.kiilationcn Kants an; denn nicht nur dio Postulate der
praktischen Vernunft sind keine Erkenntnisquellen, auch
die synthetischen Urteile a priori, als einsichtslose Urteile,
können es niclit sein. Wenn AVindelband in einer Anzeige
des eben genannten vSchriftchens erklärt, jedes Wort zu Bren-
tanos Charakteristik des transzendentalen Idealismus sei
überflüssig, und Ausrufungszeichen an die Stelle einer Wider-
legung setzt, so legt er wohl für die festwurzelnde Autorität
der Kantschen Lehre, nicht aber für ihre Eichtigkeit Zeugnis
ab. Brentano erklärt schon die Unterscheidung von Er-
weiterungs- und Erläuterungsurteilen als verfehlt. Denn jede
Erläuterung ist Verdeutlichung von etwas Undeutlichem;
so verdeutlicht z. B. die Helmholtzsche Klanganalyse das
Wesen des Vokals a und durch solche Analyse wird unsre
Erkenntnis erweitert. Wichtiger aber ist, daß Kant ganz
mit Unrecht annahm, daß, wo Subjekt und Prädikat identisch
seien, der Satz a priori als walir einleuchte. Nimmt man
„A ist A" affirmativ, so leuchtet er nicht von vornherein
ein. Er ist von der Existenz von A und nicht von dem
bloßen Begriff von A bedingt. Der Satz „Ein Pferd ist ein
Pferd" schließt den Satz ein „Es gibt ein Pferd" — und
dieser Satz ist — nach Kant selbst — synthetisch, i Nimmt
man aber den Satz „A ist A" negativ, so fällt er mit dem
Kontradiktionsgesetz zusammen und enthält weder Subjekt
noch Prädikat. Die Grimdfrage der Kritik der reinen Ver-
nunft: „Wie sind synthetische Urteile a priori möghch?"
saüt in deutliche Worte übersetzt nur dies: Unter welcher
Voraussetzung ist es ohne die äußerste Unwahrscheinlich-
keit denkbar, daß gewisse blinde Vorurteile sich bei der
Anwendimg auf das Erfahrungsgebiet (bezAv. auf das, was
Kant als solches bezeichnet, und Avas, sofern es sich um
die sogenannte äußere Erfahrung handelt, keine echte
Wahrnehmung ist), nicht als falsch erweisen? Setzt man
1 Vgl. A. Marty Gesammelte Schriften IT.. 1 S. 189. Humes und
Kants Lehre vom Existentialsatz.
69
an die Stelle blinder Yorurteile Urteile, welche im wahren
Sinne des Wortes Erkenntnisse sind, d.h. evidente Urteile
a priori, so wäre es abgeschmackt zu fragen, unter welchen
Voraussetzungen sie sich, aiif irgendwelches Gebiet an-
gewandt, ohne äußerste Unwahrscheinlichkeit als wahr er-
weisen werden, da sie ja, wenn evident, eo ipso unter
allen Bedingungen wahr sein müssen. Mit jener Voraus-
setzung aber — mit der „kopernikanischen Wendung" — ,
die Kant für seine synthetischen Urteile a priori macht,
hat er gar nichts erreicht. Sie kann ihnen die ihnen als
blinden mangelnde Sicherheit nicht geben, da sie ja selbst
weder unmittelbar einleuchtet, noch als wahr erwiesen ist.
Sie erscheint als eine willkürliche Forderung, welche die
Skepsis mit Recht verurteilt. Es ist also durch die Ver-
kündigung des Kausalgesetzes als eines synthetischen Urteils
a priori gegen die Zweifel Humes nicht das geringste
gOAVonnen — vielmehr ist durch die Einschränkung seiner
Kompetenz von den „Dingen an sich" auf die sog. Phänomene,
d. h. auf die Dinge, sofern wir sie zu unsern Objekten
machen — also auf das Erscheinende, Vorgestellte, Gedachte
als solches — alles verloren.
30. Darin allerdings stimmt Brentano mit Kant voll-
kommen überein, daß es zu wahrhaft allgemeinen Sätzen
niemals durch bloße Erfahrung per enumerationem simplicem^
kommen könne. Das Kausalitätsgesetz, wenn wahrhaft all-
gemein gültig, muß eine apriorische Erkenntnis, d. h. aus
den Begriffen evident sein.
FreiHch kann nicht geleugnet werden, daß seine Ein-
sichtigkeit hinter der des Kontradiktionsgesetzes in gewisser
Weise zurücksteht, sei es, daß die Einsicht aus den Begriffen
bei ihm gewisser Vorbereitungen bedarf, die dort nicht nötig
sind, sei es, daß wir leichter an ihm irre werden, oder sei
es, daß beides der Fall ist. Ist doch Plato an der Wahrheit
^ Vgl. Kant a. a. 0. S. 186 u. 648, u. Logik, herausgegeben von
Jäsche, S. 208.
70
(]('s Satzes, daß os niclits Unbestimmtes, Universelles geben
könne, irre geworden, obgleicli ein jeder auf die Frage,
ob OS einen Hund geben könne, der weder ein Pudel, noch
eine Dogge, noch ein Itattler, noch sonst in irgendwelclier
andrer Art differenziert sei, mit nein antworten wird. In
der Tat haben wir an früherer Stelle i gesehen, daß dieser
Satz durch Rückführung auf den Satz des Widerspruchs als
a priori einleuchtend dargetan werden kann. So glaubt
Brentano denn auch, das Kausalitätsgesetz und den Satz
vom ausgeschlossenen Zufall schlechthin auf Grund des
Kontradiktionsgesetzes dartun zu können, obgleich er nicht
leugnen möchte, w^as manche behaupten, daß er auch viel-
leicht unmittelbar mit Evidenz erkennbar sei. Seiner
Methode getreu hat er es nicht verabsäumt, vorerst den
Begriff der Ursache zu klären und seinen Ursprung auf-
zuweisen, indem er das Beginnen David Humes, die „im-
pression" aufzuweisen, aus welcher er geschöpft ist, wieder
aufnimmt und dort fortsetzt, w^o jener es, an dem Gelingen
verzweifelnd, aufgegeben hat. Aus den Kollegien Brentanos
ist diese Lehre in Meinongs Humestudien 1877 S. 118, S. 122
übergegangen, um dort ohne Namensnennung polemisch
behandelt zu werden. Vollständiger ist der Ursprung des
KausaHtätsbegriffes nach Brentanos Lehre wiedergegeben in
Martys „Raum und Zeit" S. 105 f. Brentano selbst hat das
"Wesentliche mitgeteilt im Ursprung sittlicher Erkenntnis
S. 51. Brentano glaubt — hierbei auf Aristoteles und Thomas
als seine Yorgängcr verweisend 2 — daß wir den Begi'iff aus
gewissen Akten bewußter Motivation schöpfen (Verursachung
des Mittelwollens durch den Zweckwillen, des Denkens der
Konklusion durch das Denken der Prämissen, des Einleuchtens
der apriorischen Axiome ex terminis). — Trotz der von den
genannten Schülern erhobenen Einwendungen hat Brentano
sich nicht veranlaßt gesehen, diese Lehre zu modifizieren,
1 S. 37.
2 Vgl. Aristoteles und seine Weltanschauung, S. 48.
^^^___^^_^___^^^^^^ 71
indem er auch, jede Mitursache als wahre Ursache zu be-
trachten sich berechtigt glaubt.
Ist nun gegen David Hume festgestellt, daß wir es bei
dem Begriffe der Ursache nicht mit einer Fiktion zu tun
haben, so dient uns diese Konstatierung, um die von Kant
in Verwirrung gebrachte Unterscheidung von ursächlicher
Bedingung und Notwendigkeit wieder in ihr Recht ein-
zusetzen: der Begriff der Notwendigkeit schließt ebenso-
wenig jenen der Bedingung ein, wie der der Unmöglichkeit.
Wie apodiktisch verneinende Urteile uns veranlassen^ von
„unmöglich" zu reden, so sprechen wir, indem wir uns den
analogen Begriff des apodiktisch Bejahenden synthetisch
bilden, von Notwendigkeit, und das „unmittelbar Notwendige"
ist das „unbedingt Notwendige". Das „bedingt notwendig"
steht daher dem „unbedingt notwendig" gegenüber wie eine
negative Erkenntnis einer affirmativen. Es ist nicht derselbe
Gegensatz wie zwischen „relativ notwendig" und „absolut
notwendig". Das relativ Notwendige, aber nicht absolut
Notwendige wäre etwas, was, indem es ist, in der Existenz
eines anderen seine Ursache hat, wälu-end dieses ebensogut
sein als nicht sein könnte.
Bei der Untersuchung des Satzes vom zureichenden
Grunde scheidet nun Brentano die Frage, ob ein zufälliges
Entstehen und Vergehen möglich sei, von der Frage nach
der Möglichkeit eines anfanglosen Zufalls; falls ein solcher
bestände, wäre die Frage nach dem letzten Warum ohne
Antwort. Brentano ist jedoch mit Leibniz der Überzeugung,
daß, wer das eine oder das andere behaupten wollte, einen
Verstoß gegen das Gesetz des Widerspruchs begeht, und
bemüht sich, was Leibniz unterlassen hat, dies auch zu
zeigen. Obgleich er für diesen Zweck als genügend ansieht,
daß, wer in sensu diviso Entgegengesetztes unter denselben
Umständen für möglich hielte, es auch in sensu composito
für möglich halten müßte, so legt er doch den größeren
Nachdruck auf gewisse Betrachtungen, die er auf Grund
72
des Wahrscheinlichkeitskalkuls anstellt. Während er aber in
früherer Zeit auf diese Weise bloß die unendliche Un-
wahrschoinlichkeit zufälligen Entstehens, Vergehens und
Bestehens aufwies, dient ilnn diese Methode nun dazu, um
die Unmöglichkeit des Zufalls a priori zu erweisen. Die
mannigfachen Einwendungen, die einer solchen Verwendung
der Walirschcinliclikoitsrcchnung entgegengesetzt werden
können, nötigen ilm zu besonderen Untersuchungen des
Wahrscheinliclikeitsbegriffs und wiederholter minutiösester
Erörterung gewisser Schwierigkeiten des Probabilitätskalkuls.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat Brentano in ihrer nicht
zu überschätzenden Bedeutung für die induktive Logik
früh erkannt und die Bemerkungan von Leibniz in ihrem
Werte wohl gew^ürdigt. Er hat auch seine Schüler zur Be-
schäftigung mit diesen Fragen angeregt; Stumpfs in der
bayerischen Akademie der Wissenschaft erschienene Ab-
handlungen zeugen hiervon. Th. Garrigue Masaryks Schrift
„Dav. Humes Skepsis und die Wahrscheinlichkeitsrechnung"
trägt die Spuren Bx-entanos. Auch die Übersetzung von
Laplacens philosophischem Versuch über die Wahrscheinlich-
keit von Norbert Schw^aiger verdankt dem Seminar Brentanos
ihre Entstehung. Auch Hillebrands Abhandlung zur Hypo-
thesenbildung kann in diesem Zusammenhang genannt werden,
wie denn auch Meinongs diesbezügliche Ai-beiten hier ihre
ersten Impulse empfangen haben.
Nach Erledigimg der Einwürfe betrachtet Brentano die
Frage, ob absolut zufälliges Entstehen und Vergehen möglich
sei. Wäre dem so, so müßte in jedem beliebigen einzelnen
Augenblicke eben so leicht oder jedenfalls nicht minder
leicht ein abrupter Wechsel zwischen Sein und Nichtsein
oder Nichtsein und Sein als ein Fortbestand des Seins
oder Nichtseins eintreten können. Die Walirscheinlichkeit
solchen Wechsels wäre somit für den einzelnen Moment
mindestens einhalb. Allein, nichtsdestoweniger wäre es
notwendig, daß ein abrupter Wechsel zwischen Sein und
____^^__^^^^^^^^__^ 73
Nichtsein unendlich seltener wäre als der Fall des Fort^
bestandes von Sein oder Nichtsein, denn jeder abrupte Wechsel
findet in einem Zeitpunkte statt und keine zwei Zeitpunkte
können unmittelbar einander folgen; sie müssen durch eine
Zeitlänge getrennt sein. Nun ist es aber widersprechend,
daß in jedem einzelnen Punkt die Wahrscheinlichkeit des
abrupten Wechsels mindestens einhalb ist und doch von
der Gesamtheit der Punkte notwendig unendlich mehr
ohne abrupten Wechsel als mit abruptem Wechsel vorkommen,
also sehen wir uns durch die Annahme zufälligen Entstehens
oder Vergehens zu einem AViderspruch geführt.
Die Frage nach der Möglichkeit eines anfangslosen
Zufalls wird von Brentano in analoger Weise behandelt: es
werden die aus solcher Hypothese sich ergebenden Folge-
rungen für die Wahrscheinlichkeiten der Erfüllung oder
Nichtei'füUung von E-äumen untersucht und gezeigt, daß sie
zu Widersprüchen führen. Nach umsichtiger Erwägung ver-
scliiedener Einwendungen, die ihm von befreundeter Seite
brieflich mitgeteilt worden waren, oder die Brentano selbst
in unermüdlicher Aufspürung von Aporien erhoben hatte,
glaubte er das geleistet zu haben, was er bei Leibniz ver-
mißte: die Zurückführung des principium rationis sufficientis
auf den Satz des AViderspruchs. Der Satz : nichts kann sein,
ohne, sei es mittelbar oder unmittelbar, notwendig zu sein,
schien ihm gesichert.
31. Da sich nun leicht zeigen läßt, daß nichts von dem,
was in unsere Erfahrung fällt, unmittelbar notwendig ist,
so ist der Schluß auf etwas Transzendentes, das unmittelbar
notwendig ist, unausweichlich. Hierbei nimmt er Gelegenheit,
die Art und Weise, Avie Kant die Gedankengänge des kosmo-
logischen Argumentes darstellt, als unzutreffend zu kenn-
zeichnen. Insbesondere habe er auf Leibniz nicht die ge-
botene Rücksicht genommen. Nicht von der Existenz von
Dingen sclilechthin, sondern von solchen, die nicht unmittelbar
notwendig („kontingent") sind, nimmt Leibniz seinen Aus-
74
gan^% und indem das unmittelbar notwendige "Wesen als Ur-
sacho solcher Dinge erschlossen wird, von denen eine be-
liebig große Zalil und eine beliebig verschiedene Ordnung
gleich möglich^ ist, während eine derselben mit der anderen
sich nicht verträgt, kommt die Hypothese eines mit
Verstand bevorzugenden unmittelbar notwendigen "Wesens
gegenüber einem blind wirkenden in unermesslichen Vorteil.
Denn alles, was blind Avirkt, scheint eine gewisse aus-
schließliche Beziehung zu dem, was wirklich aus ihm resul-
tiert, haben zu müssen. Bei dem Aveiteren Fortgange dieser
Erwägungen gelangt man, nach Brentanos Darlegungen, von
dem Schluß auf ein unmittelbar notwendiges Wesen nicht
nur zu dem eines Verstandes, sondern eines unendlichen
Verstandes, ja eines unendlich vollkommenen Ur-Dinges. Wohl
handelt es sich bei all dem um AVahrscheinlichkeiten, aber
Brentano zeigt, daß wir es nicht mit einem Argument von
bloß endlicher Wahrscheinlichkeit zu tun haben. Obgleich
Brentano hier vieles von jener philosophischen Tradition
wieder aufnimmt, die durch Kants Kritik unterbrochen wurde,
so wahrt er sich doch auch jener gegenüber die Selbständig-
keit des Denkens. Da nichts, was uns in der Erfahrung
vorliegt, ohne zeitliclien Wechsel ist, so ist es schlechterdings
unmcicrlich, daß etwas, was selbst ohne allen Wechsel ist,
Ursache eines Wechsels werde. In diesem Sinne gibt er
Trendelenburg recht, der ganz richtig gesagt habe, es sei
denkbar, daß Bewegung zur Ruhe, nicht aber daß Ruhe zur
Bewegung führe. Die Lehre von dem schlechthin veränderungs-
losen ersten Beweger ist nicht aufrecht zu erhalten.
Das was wir oben über den allgemeinen Begriff des
Dings als Grenze, die einem primären zeitlichen Kontinuum
zugehöre, gesagt haben, weist auf einen Charakterzug des
ersten Prinzipes hin, jenes Ur-Dinges, durch das alle anderen
sind und verharren. Auch bei ihm muß das Sein in einem
kontinuierlichen Verlauf bestehen, der in Richtung und Ver-
lauf vollkommen gleichmäßig eindimensional und unmittelbar
75
notwendig ist. Er ist dies aber nur einer seiner Grenzen
nach, welche von jeder andern als später oder früher und
als seiende von nichtseiender, ja als notwendige von un-
möglicher absteht. Dieser "Wechsel aber, weit davon entfernt,
das Frühere 'ind Spätere in Gegensatz zu zeigen, ist gerade
darum verlangt, um jeden Gegensatz zwischen Früherem und
Späterem in dem ersten Prinzip auszuschließen. Nur dann
bleibt es vollkommen mit sich selbst in Einklang, wenn es
entsprechend dem Wechsel in dem Sein der von ihm gewirkten
Dinge eines in ebendemselben Maße wechselndenWissens teil-
haft ist, und nicht etwas, was es jetzt als in hundert Jahren
seiend erkennt, nach hundert Jahren unverändert als in
hundert Jahren seiend erwarten würde. Was wäre das für
ein Gott, der zwar den ganzen Weltlauf kennte, aber nicht
wüßte, bis zu welchem Moment der Entwicklung er gelangt
sei! Unter den Gegnern des Gottesgedankens ist es David
Hume, dessen Einwürfe Brentano als die scharfsinnigsten
und beachtenswertesten hervorhebt. So ist es z. B. gewiß
eine Bemerkung, die Aufmerksamkeit verdient, wenn Hume
geltend macht, es sei nichts erklärt, wenn man die Ordnung
der Welt aus dem göttlichen Verstände erklären wolle, denn
das hieße eine Ordnung durch eine andere erldären, nämlich
durch die im Verstände Gottes vorbestehende. Brentano er-
widert, es könne, wenn eine gewisse Ordnung erklärungs-
bedürftig sei, weil sie nicht in sich selbst notwendig ist,
wie z. B. die in einem Organismus bestehende, durch Zurück-
f ührung auf eine andere homogene Ordnung keine Erklärung
geliefert werden, weil diese Ursache ebensowenig unmittelbar
notwendig sein kann wie die homogene Wirkung. Ganz
anders, wenn wir einen ordnenden Verstand annehmen; dieser
ist dem geordneten Körperlichen nicht homogen. Man hat
nur die Wahl zwischen unbewußtem und bewußtem Prinzip.
Das Unbewußte kann nicht unmittelbar notwendig sein, eben
weil es dem Gewirkten homogen ist. Wenn das Bedingende
dem Bedingten homogen ist, kann, wenn das letztere auch
76
das erstero nicht in sich notwendig sein. Auch ist der Ver-
stand nicht im selben Sinne eine Ordnung wie die Welt.
Denn das von ihm Gedachte als solches, welches geordnet
erschiene, wenn es wäre, ist ja nicht, sondern das Denken
ist und dieses ist eine Einheit.
32. Ohne den Entwicklungsgedanken zu bestreiten, der
vielmehr nach Brentano auf das ganze Universum als welt-
beherrschendes Gesetz auszudehnen ist, hat Brentano doch
den spezifisch Darwinschen Erklärungsversuch der all-
gemeinen Umbildung niemals anerkannt und ihn für nicht
minder unannehmbar bezeichnet als den von Lamarck. Es
ist sehr bedauerlich, daß die betreffenden Teile seiner Vor-
lesung nicht veröffentlicht worden sind. So konnte es ge-
schehen, daß viele seiner kritischen Bemerkungen inzwischen
von anderen gemacht wurden. Hat Darwin selbst bei dem
Gedanken, wie die Bildung neuer Organe und ihre Ent-
wicklung bis zur ersten Brauchbarkeit sich erklären solle,
einen gelinden Schauer empfunden, so hat Brentano darauf
verwiesen, daß zufällige Variation und natürliche Auslese bei
der Vervollkomnmung schon hoch entwickelter, sozusagen
exquisiter Organe neue Eätsel aufgibt, weil in solchen
Fällen das Zahlenverhältnis der möglichen günstigen und
imgünstigen zufälligen Abweichungen die letzteren in stets
wachsender Majorität erscheinen läßt. Boltzmanns Lehre von
der Destruktion der Ordnung durch sich häufende Zu-
fälle steht zu dieser Behauptung Darwins, nach welcher,
auf organischem Gebiete wenigstens, die sich häufenden
Zufälligkeiten mit höchster Wahrscheinlichkeit zum Aufbau
einer immer vollkommeneren Ordnung führen würden, in
bemerkenswertem Gegensatz. Der AVahrscheinlichkeitsbruch
für die Frage, ob der Schein der Teleologie als wirkliche
Teleologie zu begreifen sei, ergibt sich aus dem Vergleich
der Zahl der gleich denkbaren Fälle, welche eine so aus-
gezeichnete Ordnung zeigen, mit jenen, die sie nicht zeigen.
Forscht man danach, so ergibt sich eine unendliche Majorität
^____ 77
der Fälle der Unordnung. Nur durch Anwendung dieses
Gedanlvens konnte Boltzmann es unternehmen, die Entropie
verständlich machen zu wollen. Und Brentano erklärt es
für höchst sonderbar, daß man in gleicher Weise Darwin
und Boltzmann. Beifall zolle.
Wie Leibniz, so glaubte auch Brentano eine opti-
mistische AA^eltanschauung rechtfertigen zu können. Auch
für ihn ist der Weltprozess nichts anderes als ein unendlicher
Entwicklungsprozeß. Hat Leibniz den modernen Entwicklungs-
gedanken vorausgedacht, so denkt ihn Brentano zu Ende.
In einem unendlichen Aufstieg sieht er das Endziel oder
richtiger gesagt das Ziel ohne Ende, das teleologische Welt-
gesetz, das mit dem kausalen vereint alles Geschehen durch-
waltet. Das Universum kann nach einem aristotelischen Wort
nicht, einer schlechten Tragödie gleich, in lauter Episoden
zerfallen. Gibt es außer unserer dreidimensionalen Welt etwa
noch anders gestaltete Topoide von vier und mehr Dimen-
sionen — und was sollte uns hindern dies anzunehmen ^ —
so ist es der Strom des geistigen Lebens, der, von unserer
räumlichen Erfahrungswelt in jene Überräume hinüberflutend,
die Einheithchkeit des Kosmos aufrecht erhält. Denn wie mit
einem dreidimensionalen Gehirne, so kann die seelische, un-
ausgedehnte Substanz auch mit einem Organe höherer Mannig-
faltigkeit in Wechselwirkung treten. So eröffnen sich un-
endliche Perspektiven, wie sie sich in gleicher Großartigkeit
kaum noch einem anderen Denker aufgetan haben, wollte
man nicht etwa Spinoza ausnehmen, der, indem er neben
den beiden empirischen Attributen seiner Gott-Natur noch
unendlich viele unbekannte lehrt, an einen ähnlichen Ge-
danken rührt. Doch durch den Pantheismus Spinozas ab-
gestoßen, fühlt sich Brentano vielmehr zu Aristoteles und
Leibniz hingezogen. Und diesen großen Lehrern der Mensch-
heit ebenbürtig wird ihn — daran zweifle ich nicht — die
Zukunft erweisen.
' Vgl. Die vier Phasen der Philosophie, Anmerkung 62.
78
33. So liabcn wir denn einiges aus dem gewaltigen Fragen-
komplexe gestreift, dem Brentano sein vorzüglichstes Nach-
denken zugewendet hat. Der Inhalt seiner großen historischen
Arbeiten blieb hierbei — um diese Schrift nicht allzusehr
anschwellen zu lassen — vollständig außer Betracht. Was
seine Veröffenthchungen zur systematischen Philosophie an-
langt, so haben wir uns aus dem gleichen Grunde in wesent-
lichen Punkten mit dem eindringhchen Hinweis auf sie be-
gnügt. Zur Rechtfertigung seiner Dreiteilung der ])sychischen
Beziehungen in Vorstellungen, Urteile imd Gemüts-
fcätigkeiten ist von ihm und andern so eingehend ge-
handelt, die Verankerung der drei praktischen Diszij)linen:
der Ästhetik, Logik und Ethik in jeder dieser drei Grund-
klassen wiederholt! so im einzelnen dargelegt worden, daß
wir in diesem Augenblicke nichts Neues hätten hinzufügen
können. Mit Recht hat auch Freiherr von Pidoll in seinen
erwähnten „Erinnerungen" auf die außerordentUche Be-
deutung aufmerksam gemacht, die gewisse Schriften Brentanos
für den Juristen und Politiker besitzen. Die Polemik gegen
Rudolf Jhering über den Begriff des Rechtes im „Ursprung
sittlicher Erkenntnis", seine Ausführungen über die Aufgabe
der innern und äußern Politik in der „Zukunft der Philo-
sophie", seine weit ausgreifenden Arbeiten über das Ehe-
hindemis der höheren AN'eihen nach österreichischem Recht
seien darum auch hier besonders hervorgehoben. Brentanos
„letzte Wünsche füi' Österreich", jener Aufsehen erregende
Mahnruf, den er 1894, anläßlich seines Scheidens von Wien,
an die österreichische Regierung richtete, waren es, in denen
er unter anderem eine freiheitliche Auslegung des § 63 des
» Vgl. A. Marty, „AVas ist Philosophie?" (Eektoratsvortrag), Ge-
sammelte Schriften I, 1, Halle 1916. J. Eisenmeier „Die Psychologie
und ihre zentrale Stellung in der Philosophie", Halle 1914.
* Er lautot: „Geistliche, welche schon höhere Weihen emp-
fangen; sowie auch Ordenspersonen von beiden Geschlechtem, welche
feierliche Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt haben, können keine
gültigen Eheverträge schließen."
79
allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches 2 als jene nachwies,
die dem Buchstaben, der Entstehungsgeschichte und dem
Geiste des Gesetzes entspricht. Der eifervolle Widerspruch
des Prager Universitätsprofessors Horaz Krasnopolski nötigte
ihn zu einer Reihe weiterer zeitraubender Studien und
Arbeiten, die im unten folgenden Schriftenverzeichnis an-
gegeben sind. Die Auffassungen, die in diesen Meisterwerken
juristischer Methodik verfochten werden, hat der größte
österreichische Jurist Josef Unger in der Festschrift zur
Jahrhimdertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches
als die richtigen erklärt. 1 In unserer Zeit, wo das Interesse
für eine Rechtsmethodik in weitesten Kreisen erwacht ist,
kommt diesen klassischen Untersuchungen erhöhte Bedeu-
tung zu. 2
Die eben erwähnte literarische Fehde und die daran
sich knüpfende Abwehr persönlicher Angriffe, auf die ich
in anderem Zusammenhang zurückkommen möchte, ist das
letzte Ereignis gewesen, das Brentano für längere Zeit von
der Philosophie abzog. Von da ab verlief sein äußeres Leben
in gleichmäßig ruhigen Bahnen. Nach kurzer Wanderzeit
ließ er sich in Florenz nieder, vertauschte es wohl zeitweilig
aus Gesundheitsrücksichten mit Palermo, aber alljährlich
führte ihn der Sommer nach der Wachau in das hebliche
Donautal zurück, wo das gastfreie Schönbüliler Haus seine
Freunde und Schüler um ihn versammelte.
Zeitlebens hat sich Brentano den hohen Sinn für das
Gut der Freundschaft in jener edelsten Form gewahrt, wie
sie Plato verherrlicht und Aristoteles preist. Gern gedachte
er seines Jugendfreundes, des Dominikanerpriors Adler, der,
' Vgl. auch die Sonderausgabe „Priesterehen und Mönchselien"
von Josef Unger, Jena 1910. Schon früher hatten die Rechtsgelehrten
Glaser und Maassen, letzterer auch literarisch, die gleiche Ansicht
vertreten. Der Zentrumsabgeordnete Lieber stimmte brieflich zu.
2 Vgl. meinen Artikel : „Die leitenden Grundsätze der Gosetzes-
interpretation" in der Zeitsclirift für das Privat- und öffentliche Recht
der Gegenwart, XXXII. Ed., 1905.
80
jüdischer Abstammung, durch ihn dem Christentum zugeführt
worden war, und der noch in seiner Sterbestunde den Freund
in sein Gebet einschloß; rühmend sprach er von den Tugenden
seines Jugendgenossen, des berülimten Pjildhaucrs Kaspar
Zumbusch, den ein ähnlicher Lebensweg nach Wien geführt
hatte, und von den sympathischen Charaktereigenschaften
des kunstsinnigen Herz von Hertenried. In freundlichem
Andenken behielt er von seinen Wiener Fakultätsgenossen
den angesehenen Slavisten Miklosich und den greisen Zoo-
loo-en Claus. Mit Ehrfurcht hörte ich ihn die Namen älterer
Freunde und Berater nennen: den seines Erziehers, des Lyzeal-
professors und Hofbibliothekars Josef Merkel, dem er dankbar
die „Psychologie des Aristoteles" ge\\admet hatte, des ihm
väterlich gesinnten, weisen Benediktinerabtes Haneberg, der
ihm Avährend seiner Glaubenskrise Zuflucht und Beistand
gewährt hatte, und des vornehm denkenden Ignaz von Plener.
Kindliche Pietät und Dankbarkeit sprechen aus manchen
seiner formvollendeten Gedichte, die er seiner edlen Mutter
widmete. Ein starker Familiensinn beseelte ihn bis in sein
höchstes Greisenalter. Mit gleichem Interesse verfolgte er
das Los seiner Geschwister, die das Schicksal über ganz
Europa zerstreut hat. Hatte ihn sein künstlerischer Hang
nach Italien gelockt, so fand ihn der Ausbruch des italieni-
schen Krieges in Zürich, die eine Schwester — die Witwe
nach Peter le Page Renouf , dem berühmten Ägyptologen —
in London, die andere — die Gattin des Professors Theophil
Funck — in Paris, den Bruder Lujo und die jüngste Schwester
in und bei München. So fühlte er, dessen Gattin aus Öster-
reich stammte, — obgleich er die Sache der Mittelmächte
in ihrem Ursprung als eine gerechte imd reine erldärte —
die eanze Trajjik des brudermörderischen yölkerz\%-istes in
tiefstem Herzen.
Manche edle Frauengestalt hatte ?u seinem Freundes-
kreise gezählt. Dem Verkehr mit der dichterisch begabten
Dora Freifrau von Gagern verdankte die erste Auflage seines
81
Rätselbuches ihre Entstehung; auch die befreundete Ebner-
Eschenbach schätzte seine poetischen Erzeugnisse und
wünschte dringend ihre Veröffentlichung. In Florenz kam
er mit Isolde Kurz und deren Mutter in Berührung, während
die Begegnung mit Waldwiga v. Meysenbug in Rom flüch-
tiger gewesen zu sein scheint. Aus der Aschaffenburger Zeit
blieb er in dauernder Beziehung zu der Familie seiner Jugend-
freundin Karoline Hauser-Edel, deren Tochter ihm längere Zeit
als Seki'etärin zur Seite stand. In Wien hatte er sich häufig in
der literarischen Zentrale der Verlegersgattin Rosa Gerold
eingefunden. Die Damen Wertheimstein, Mutter und Tochter,
letztere einst die gefeierteste Schönheit Wiens, standen seinem
Herzen besonders nahe. Ida Lieben, die er sich zur Gattin
gewählt, rühmt jeder, der sie kannte und er selbst als Ver-
körperung der Klugheit, Hingebung und Güte. Nach ihrem
Tode fand er im Jahre 1897 in Emilie Rueprecht, seiner
Nachbarin von Schönbühel her, die zweite Lebensgefährtin,
die nicht nur seinem jungen Söhnchen die zärtlichste Mutter
werden sollte, sondern auch mit unermüdlicher Liebe ihn selbst
betreute und der Sorglosigkeit steuerte, mit der ihr Gatte
den Gefährdungen seiner Gesvmdheit Trotz zu bieten pflegte.
Ein treuer Anhänger entstand Brentano in Mario PugUsi,
den er in Florenz kennen lernte und der späterhin die
„Klassifikation der psychischen Phänomene", mit einer
biographischen Einleitung und Einführung versehen, ins
Italienische übersetzte. Innige Sympathie verband Brentano
mit seinem Nachbarn, dem russischen General Zoubow, dessen
berühmter Garten bei der Villa dell' ombrellino (BeUosguardo)
mit seinen Wandelgängen und Loggien ihm jederzeit offen-
stand. Nicht minder herzlich gestalteten sich die Be'ziehungen
zu Stalle, dem Verfasser des bekannten Werkes: „Die Begriffe
und Theorien der modernen Physik", das Brentano mit großem
Interesse kritisch glossierte. Ebenso hat E. Boltzmann, der
geniale Physiker, in seinen letzten Lebensjahren Anschluß
an Brentano gesucht und gefunden. Im .Tahr U)08 reiste er
Kraus, Franz Brentano. 6
82
nach l-'loronz uml wurde l);il(l als willkommener Gast im
Hause Brentanos heimisch. In Italien hatte Brentano eine
o-anze Reihe philosophischer Freunde gewonnen; in Palermo
wurde er der Mittelpunkt eines philosophischen Kreises, aus
demDr. Amato hervorragte. Die Verehrung, die ihm dort ent-
<Tegengebracht wurde, nahm mitunter enthusiastisclie Formen
an. Eine Anzalil jüngerer Forscher, darunter Professor Vailati
und andere, suchten ihn auf, und freigebig wie immer, er-
schloß Brentano ihnen seinen geistigen Reichtum. Mehrere Ab-
handlungen in Briefform an die Philosophen Professor Faggi,
Guastala, Amato sind auf diese Anregungen zurückzufilliren.
Überhaupt bildet der Briefwechsel Brentanos eine dei-
wichtigsten Quellen für die Kenntnis seiner T^ehre. Der
briefliche Verkehr mußte ihm oft Ersatz bieten für die un-
mittelbare persönHcho Einwirkung und Lehrtätigkeit, nach
der er sich sehnte, und besonders die schriftliche Auseinander-
setzung mit verständnisvollen, in die Eigenart seines Denkens
eingelebten Schülern und Enkelschülern w^urde von Italien
aus eifrig gepflegt. Die Kontroversen mit Marty z. B. sind
Fundgruben ersten Ranges für die Kenntnis gewisser Ent-
wicklungsphasen seiner Philosophie; wertvolle psychologische
Erörterungen finden sich unter anderem in Briefen an Hille-
brand, Stumpf und manche seiner Hörer; metaphysische und
religionsphilosophische Fragen kommen in Briefen an Her-
mann Schell zur Besprechung und eingehende briefliche
Kritik übte er an den polygamischen Reformideen und
kosmogonischen Spekulationen des Freiherrn von Ehrenfels;
mit Gelehrten wde Boltzmann, Mach, Enriques, mit Luto-
slavski, Eugen Reifes, Gustav Schneider wurden wissenschaft-
liche Briefe gewechselt. Mit dem Neurologen Doktor Josef
Breuer, seinem bewährten Hausarzte, führte er lange schrift-
liche Diskussionen über die Darwinsche Hypothese und
daran anknüpfende Fragen. Auch seinen Enkelschülern
widmete er ausführHche Schreiben, w^ann immer sie sich
mit Fraj^en oder mit Einwürfen an ihn wandten. Viele von
^__ 83
ihnen und gar mancher seiner ehemaligen Hörer pilgerten
nach Florenz und jene, welche die weite Reise scheuten,
konnten sicher sein, zur Sommerzeit in Schönbühel auf das
herzlichste willkommen geheißen zu werden. Oft beherbergte
auch Kellergeschoß und Mansarde die Freunde, die das
Gastzimmer nicht mehr aufnehmen konnte. Diesen Verkehr
mit philosophisch interessierten Männern und Wahrheits-
suchern hat Brentano niemals missen wollen. Er war ihm
— ich hob es schon hervor — unabweisliches Bedürfnis.
Darum entlud sich sein Mitteilungs- und Lehrdrang ge-
eigneten, mitunter auch ungeeigneten, Persönlichkeiten
gegenüber geradezu eruptiv; er überschüttete den Hörer,
mochte er auch von langer Reise noch so erijiüdet
und noch so wenig aufnahmsfähig sein, mit einer über-
quellenden Fülle von Gedanken, i die zu erfassen selbst für
den Lernbegierigsten kaum möglich war. Nur wer gleich
oder unmittelbar darauf das Gehörte aufzeichnete, war im-
stande, es zu verarbeiten und zu bewahren, so z. B. enthält
Martys Nachlaß Hunderte Blätter, gefüllt mit Notizen, die
seinen jährlichen Ferialbesuchen entstammen.
Für den Schreiber dieser Zeilen bedeuteten die Wochen,
die er in Schönbühel oder Florenz im Verkehr mit Brentano
verleben durfte, Tage des Glückes und der reinsten geistigen
und sittlichen Erhebung. Kaum vermochte das Bewußtsein,
einem des Augenlichtes Beraubten gegenüberzustehen, dieses
Hochgefühl zu trüben. Ja die klaglose Heiterkeit des Blinden
sprach imi so ergreifender für die Ki-aft und Tiefe seiner
philosophischen Überzeugung. Zu spät hatte Brentano die
Abnahme seiner Sehkraft den Ärzten offenbart; zwei pflück-
lieh verlaufende Operationen hatten seine nahezu völlige
Erblindung nur noch zu verzögern vermocht. Aber seine
Energie blieb ungebrochen. x41s 1914 Anton Marty starb,
hielt ihn nichts zurück, seiner Freundespflicht Genüge zu
tun; von seiner Gattin geleitet, reiste er nach Prag, um an
' Vgl. Professor Utitz" Nachruf in den Kantstudion, XXII. Bd.
6*
84 ______
(lor Stiitto, wo dieser ^rrcnesto der '^rreuon sein Grab ge-
fiiii(l(Mi li;ittc, den D.uik für Ifljcnslang bowalirte Liebe und
Freundschaft zu zoJlen.
Im Herbst IDKi, nach zweijähriger Trennung, trieb die
Sehnsucht meinen Freund Kastil und mich nach Zürich.
IJrentano hatte auf dem Zürichb(!rg(! Wohnung genommen.
Einige Freunde der Philosophie pflegten sich auch dort um
ihn zu versammeln; mehrere Stunden täglich widmete ei-
der Niederschrift eines religionsphilosophischen Werkes, das
abgeschlossen vorliegt und seine Stellung zum Christentum
in fesselndster Weise darlegt, und diktierte jene knap[)en
Entwürfe seiner Weltanschauung und Erkenntnistheorie,
denen die vorstehende Skizze einige Grundzüge und Kapitel -
stellen entnommen hat; unter jenen Diktaten findet sich
auch eine Vorlesung über die Geistigkeit der Seele, die er
in unverminderter Lehrfreudigkeit vor wenigen Gästen seines
Hauses hielt.
AVir trafen den Meister womöglich noch vergeistigter
als früher: das Auge völlig erloschen, die hohe Gestalt un-
gebeugt, vom Adel seiner Persönlichkeit umflossen; ab-
gezogen von der Sinneswelt, in die tiefsten ]-*robleme ver-
senkt. Fhffürclitig fühlten wir einem ganz Vollendeten nalie
zu sein. Noch während meiner Anwesenheit erkrankte er
an einer Blinddarmentzündung; er überstand den Anfall
glücklich und ich konnte ihn als Genesenden verlassen. Im
März des nächsten Jahres wurde er rückfällig. Ein unauf-
haltsamer Kräfteverfall setzte am 17. März seinem Leben ein
Ende, das mit dem 16. Januar die Schwelle des 80. Jahres
überschritten hatte. Nicht einen Augenblick hatte ihn, selbst
während der qualvollsten Schmerzen, sein Gottesbewußtsein
verlassen. An dem Grabe des Konfessionslosen, das nur
wenige Freunde umstanden, sprach Fr. W. Foerster, sein
Nachbar auf dem Zürichberg, einige der Weihe der Stunde
angemessen^ Worte des Abschiedes. Auf dem Friedhof Sihl-
feld ruht, was sterblich an ihm war.
ANHANG I:
ERINNERUNGEN AN FRANZ BRENTANO
VON
CARL STUMPF
Was der Leser hier von mir erwartet, ist Tatsächliches
über Brentanos Leben und seine Persönhchkeit, sowie über
die Entstehungsgeschichte seiner philosophischen Lehre. "Was
ich aber in erster Linie zum Ausdruck zu bringen wünsche,
das ist die Liebe und Dankbarkeit, die ich meinem großen
Lehrer schulde und bis zum letzten Atemzuge bewahren
werde. Zum Bestand seines inneren Lebens gehörten mehr
als bei vielen anderen Forschern die innigen Beziehungen,
die ihn mit Schülern verknüpften und auf deren Pflege er
selbst in höchstem Maße bedacht war. Daß die Berliner
Unrast und Überlastung mich verhinderten, die in den Jugend-
jahren begründete enge Fühlung in gleicher Weise aufrecht
zu erhalten, empfand ich immer schmerzlich. Mein Freund
Martv und seine Schüler waren darin glücklicher. Aber über
die wichtigsten Entwicklungsjahre Brentanos, über seine
Würzburger Zeit zu berichten, ist gegenwärtig keiner so
wie ich in der Lage, und darum unterziehe ich mich gern
dieser Aufgabe und freue mich, diese auch für mich ent-
scheidende Zeit nach einem halben Jahrhundert im Fluge
der Erinnerung noch einmal zu durchleben.
1. Habilitation 1866. Brentano als Lehrer. Unser
Verkehr in AVürzburg und Aschaffenburg.
Ich sah und hörte Brentano zuerst am 14. Juli 1866 bei
■der sehr besuchten öffentlichen Disputation zum Zwecke
der Habilitation in Würzburg. Es war eine unruhige Zeit.
An demselben Tage tobte die Schlacht bei Aschaffenburg,
unserer gemeinschaftlichen Heimat. Ich war ihm dort, da
meine Eltern erst 1868 dahin gezogen waren • und er das
(lymnasium längst verlassen hatte, bisher nicht begegnet
und hatte wohl auch nichts von ihm gehört. Es ist ein
Spiel des Zufalls, daß ein bekannter österreichischer Ge-
schichtsforscher, Karl Friedrich Stumpf-Brentano, nicht nur
die beiden Namen verband, sondern aiich mit mir die gleichen
Vornamen trug. Dieser war durch seine Heirat mit einer
88
PVcUikfiirtor Jjrentano (derselben, an di«- ein aus dec Müncliener
»Studienzeit stammendes hübsches kleines Gedicht Brentanos
gerichtet ist) ein Verwandter des iirentanoschen Hauses ge-
worden. Meine Familie stand aber in keinerlei Beziehung
weder zu der Brentanos, noch zu der des österreichischen
Stumpf. In meinen ersten Studiensemestern, Winter 65 und
Sommer 66, hatte ich in Würzburg, wie es in Bayern vor-
geschrieben war, allgemeinere Vorlesungen gehört, darunter
auch philosophische bei dem Baader-Schüler Franz Hoffmann,
dessen geschwätzigbreite Art niemand anziehen konnte, und
bei dem Philologen Urlichs, der in elegantem, aber philo-
sophisch nicht tiefer eindringendem Vortrag Ästhetik untf-r
Anlehnung an Kants Kritik der üi-teilskraft \'ortrug. Im
Sommer 66 hatte ich aber auch schon mit einem Fachstudium,
dem der Rechtswissenschaft, begonnen und dabei namentüch
an den Pandekten Köppens, an seiner sorgfältigen und scharf-
sinnigen Durchführung der Kontroversen Gefallen gefunden.
Die Anzeige von J3rentanos Disputation lockte mich und
meinen älteren Bruder, dem Turnier beizuwohnen. Brentano
hatte nicht weniger als fünfundzwanzig lateinische Thes(;n
über sämtliche Gebiete der Philosophie aufgestellt, über die
aber in deutscher Sprache disputiert wurde. Hoffmann und
Urlichs opi)oniertcn, violleicht auch noch andere. Die Art^
wie Brentano seine Thesen verteidigte und erläuterte, offen-
barte eine solche Überlegenheit über die Angreifer, daß ich
mir den Besuch seiner Vorlesimgen für den Winter vornahm.
Hinter jeder dieser Thesen stand, das zeigte sich teils bei
der Disputation selbst, teils später in den Vorlesungen, eine
gründlich durchdachte Theorie. Besonders freuten wir uns,
daß er für die Philosophie keine andere Methode als für
die Naturwissenschaft in Anspruch nahm und darauf seine
Hoffnungen für eine Wiedergeburt der Philosophie begründete.
Es war eine neue, eine unvergleichlich tiefere und ernstere
Auffassung der Philosophie.
Daß nicht nur grüne Studenten, sondern auch die an-
89
wesenden Fakultäts- und Senatsmitglieder einen großen Ein-
druck von Brentano hatten, zeigt der mir kürzlich durch
Herrn Professor Chroust in Würzburg aus den Akten mit-
geteilte Bericht der Senatskommission an den Senat vom
15. Juli. Er rühmt „den Scharfsinn seines Geistes, die Klar-
heit und Präzision seiner Begriffe, die Leichtigkeit in der
Auffassung fremder Ideen, die Sicherheit seiner Entwick-
lungen, den echt wissenschaftlichen Charakter seiner Methode
sowie nicht minder die Vielseitigkeit seines Wissens auf den
Gebieten der Philosophie und exakten Forschung". „Mit der
Kraft der Überzeugung verbinden sich in ihm geziemende
Formen, mit der Würde des Mannes der Wissenschaft ist
eine wohltuende Bescheidenheit gepaart. Ruhe, Klarheit,
Präzision und Gründlichkeit müssen wir als den wesent-
Hchen Charakter seiner Erörterungen bezeichnen." Von der
Habilitationsschrift (Psychologie des Aristoteles) sagt der
Dekan, sie nehme unter allen im Laufe eines halben Jahr-
hunderts an hiesiger philosophischen Fakultät eingereichten
Arbeiten den ersten Rang ein. Das Thema des Probevortrags
am 15. Juli war ein Brentano äußerst fernliegendes gewesen,
das er sicher nicht selbst gewählt, sondern Hoffmann gegeben
hatte: „Über die Hauptentwicklungsstufen der Philosophie
Schellings und den wissenschaftlichen Wert der letzten Phase
ihrer Gestaltiing".
Vierzehn Tage darauf wurde Würzburg, und nicht nur
die Festung, von dem preußischen Belagei'ungskorps be-
schossen, und die Universität schloß ihre Pforten. Brentano
soll zu Fuß durch den Spessart nach Hause gewandert
und dabei einmal als der Spionage verdächtig festgehalten
worden sein.
Im Herbst also hörte ich seine erste Vorlesung über
Geschichte der Philosophie. Eine längere Einleitung
über den Begriff und die Methode der Philosophie ging
voraus. Auch die Lehre von den vier Phasen wurde schon
damals vorgetragen. Diese Idee war Pn-entano, wie er mir
90
s|)ätcr sa^te, zuerst während der Rekonvaleszenz von einer
schweren Erkrankung; (Ostern IHdO) aufgegangen, nachdem
er, an der Philos()i)liio fast irre geworden, lange Zeit
darüber nachgedacht liatte, was es eigentlich mit den so
liolie Ansprüche stellenden und zeitweilig so allgemein
lii-wunderten, dann wieder gänzlich verworfenen Systemen
(h'i- sj)ekulativen Philosophie auf sich habe. Da sei ihm
die Analogie im Verlaufe der philosophischen Bewegung
innerhalb jeder der drei Hauptperioden (die er natürlich
nicht als unbedingt gültig für alle Z^ikunft ansah) als ein
erleuchtender und rettender Gedanke gekommen. In der
Darstellune: selbst verweilte Brentano sehr ausführlich bei
der griechischen Philosophie. Jedes einzelne System der
älteren und jüngeren Naturphilosophie gestaltete sich bei
aller Gewissenhaftigkeit in der Ausdeutung der erhaltenen
Bruchstücke zu einem Kunstwerk, jedes Fragment wurde
mit dem Ganzen in Ziisammenhang gebracht und der stetige
Fortschritt aufgezeigt. Statt der trockenen Aneinanderreihung
der Lehrsätze trat uns eine lebendige Entwicklung vor Augen.
Die geistreiche Darstellung des Heraklit, die Lösung schein-
barer Widersprüche zwischen den Fragmenten und den
Referaten bei Xenophanes, wodurch zugleich der Übergang
von den alten Joniern zu den Floaten verständlich wurde,
die Schilderung der Sokratischen Persönlichkeit, die Wieder-
gabe des aristotelischen Systems von seinem genauesten
Kenner — kurz alles erfüllte mich mit Bewunderung. Dazu
kam der persönliche Eindruck des Lehrers, der ganz vom
Bewußtsein einer hohen Mission getragen war, ganz in der
großen Sache eines Neubaues der Philosophie aufging, dessen
Denken und Fühlen in dem einen Brenn])unkt zusammenlief
und von ihm wieder ausstrahlte. Dazu noch die äußere Er-
scheinung der großen asketischen Gestalt im geistlichen
Gewände mit dem überaus feingeschnittenen prachtvollen
Denkerkopf, der hohen schönen Stirne, den unter hoch-
geschwungenen Brauen und etwas gesenkten Lidern ver-
91
borgenen scharfen Augen, die jede Miene des Zweifels oder
Fragens auf dem Gesicht eines Hörers bemerkten, der im
ganzen leisen, aber sehr deutlichen und wohlformulierten
Sprechweise, die ohne besondere Künste als etwa gelegent-
lich einer eingefügten Anekdote (ich erinnere mich, wie er
das „möghche Sein" des Aristoteles durch die in den Reli-
böcken und Wildschweinen schlummernden Möglichkeiten
nach Clemens Brentanos „Mehreren Wehmüllern" erläuterte)
durch die Kraft des logisch festgefügten Gedankenbaues die
Zuhörer während der abstraktesten Untersuchungen zu atem-
loser Stille und gespannter Aufmerksamkeit zwang. Welcher
Gegensatz zum alten Hoff mann! Die Vorlesung war und
blieb denn auch bis zum letzten Platze gefüllt, allerdings
nicht bloß von Eingeschriebenen. Die mir von der Würz-
burger Quästur übersandten Zahlen bleiben, wie es auch
bei Lotze der Fall war, weit unter der wirklichen Hörer-
zahl zurück.
Welche Gewalt so Brentano über empfängliche Studierende
gewann, davon zeugt die Umwandlung, die er in mir hervor-
rief. Nach wenigen Wochen begann ich in der Jurisprudenz
flau zu werden, und noch vor Weihnachten suchte ich ihn
auf, um ihm die Absicht vorzutragen, Philosophie und Theo-
logie zum Lebensberuf zu wählen. Ja, ich wollte ihm auch
in den geisthchen Stand folgen, so sehr hatte mir's sein
Beispiel angetan. Ich war zwar von Kindheit an religiös
gestimmt, aber eine jederzeit nach Möglichkeit vergnügte
Natur und hatte niemals daran gedacht, der Welt zu ent-
sagen, wie auch in der Familie seit Menschengedenken kein
solcher Fall vorgekommen war. Der Vater, als Arzt, hielt
am meisten auf Naturwissenschaft und Medizin. Das Rechts-
studium hatte ich gewählt, weil mir eine Stelliuig in der
Verwaltungs- oder Justizpraxis nach getaner Bureauarbeit
die beste Muße für die geliebte Musik zu gewähren schien.
Daneben w^ar meine Hauptpassion das Wandern über Borg
und Tal. Und nun wollte ich mich auf Jahre hinter enpe
02
Mauern zurückziehen und für Lebenszeit die (empfindlichsten
äußeren und inneren ]-5e.schränkungen auf inicli nehmen, um
den inneren Frieden der Seele dafür zu gewinnen. Brentano
iiet, wie es seine Pflicht war, zu längerer Überlegung und
Prüfung, Er kannte mich ja auch noch gar nicht. Aber von
(hi ab begleitete icli ihn immer öfter auf seinen Spazier-
gängen in Würzburg und Asciiaffenburg und erfreute mich
seiner persönlichsten Anteilnahme und Fürsorge auf jedem
weiteren Schritte meiner geistigen Ausbildung. Niemals
ist mir ein akademischer Lehrer begegnet, weder in der
Studenten- noch in der Professorenzeit, der sich in solchem
Maße mündlich und schriftlich dieser erzieherischen Tätig-
keit gewidmet hätte. Er folgte auch darin dem Vorbild
der großen griechischen Denker, die er über alle anderen
stellte. Das FreundschaftsA^erhältnis zu den Schülern, auf
gleicher unbedingter Hingabe an die höchsten Ziele be-
i'uhend, war eines der stärksten Bedürfnisse seines Lebens.
Noch aus seinem letzten Brief an mich, wenige Wochen
vor seinem. Tode, spricht dieses Bedürfnis in rührender
Weise, indem er die Abnahme unserer wissenschaftlichen
Füldung und Korrespondenz beklagt.
Den Wert, den die logische Schulung durch einen
Denker von solcher Schärfe und Strenge für den Anfänger
li^tte, haben später Tausende ebenso wie ich empfunden.
Wie er selbst bei den größten Meistern der Syllogistik,
Aristoteles und Thomas, in die Schule gegangen war, so
gewcihnto er aiicli seine Schüler vor allem an Selbstzucht
und kritisches \'erhalten in Hinsicht der logischen Erforder-
nisse des Denkens. Lange Reden schnitt er ab und drängte
auf straffe Zusammenfassung des Gedankenganges in syl-
logistischen Formen, die dann unnachsichtlicher Pi'üfung
der Vordersätze und der Schlußkraft unterlaufen. Concedo
majorem, distinguo majorem, nego minorem, probo minorem —
wurden auch diese alten Formeln nicht gebraucht, die
Formen waren es doch, und ich erachte auch heute noch
9:^
dies als Gewinn, wie ja aucli selbst J. St, Mill Übungen
darin für die Gegenwart wieder herbeiwünschte. Im zweiten
Semester, Winter 67, führte Brentano auch l^esondere öffent-
liche Übungen ein, wobei Einwände gegen die Ausführungen
seiner metaphysischen Vorlesung formuliert und geprüft
wurden. Unter den auch da sehr zahlreichen Hörern wagten
sich freihch nur wenige öfter vor, da es nicht angenehm
war, logischer Schnitzer überführt zu werden, wenn es auch
stets rücksichtsvoll geschah. Mit dunklen Gefühlsmotiven
durfte man nicht kommen. Ich erinnere mich, daß einer
die Wendung gebrauchte, er könne sich mit einer gewissen
Tliese nicht befreunden, und die Antwort erhielt, daß es
darauf auch gar nicht ankomme.
Gleichzeitig mit der philosophischen Ausbildung lag
Brentano die religiöse Vertiefung seines Schülers am Herzen.
Er legte außerordentliches Gewicht auf die Meditation, d. h.
die ruhige nachdenkliche Vertiefung in die Geheimnisse und
überheferten Begebenheiten der Religion, wie sie von der
mittelalterUchen Asketik und Mystik gepflegt wurde. Diese
bildet bis zur Gegenwart einen Bestandteil der Erziehung
der katholischen Geistlichkeit. Wie Maria und Martha, so
sollen das betrachtende und das tätige Leben einander er-
gänzen, aber das betrachtende hat insofern noch höheres
Gewicht, als es sich dem letzten jenseitigen Ziel der seligen
Anschauung Gottes nähert. „Wer nicht betrachtet," schrieb
mir Brentano nach Göttingen Silvester 67, • „scheint mir
kaum zu leben, und ein Philosoph, der die Betj-achtung
nicht pflegt und übt, verdient den Namen nicht, er ist kein
Philosoph, sondern ein wissenschaftlicher Handwerker und
unter den Philistei-n der philiströseste. Lassen Sie sicli um
Gottes willen durch nichts in Ihrem Entschlüsse wankend
machen, täglich eine kleine Zeit der Betrachtung zu weihen.
Die Untreue gegen die Vorsätze, die Ihnen Gott einflößt,
würde sich hittei' rächen. Für immer würrh^ llinen viellciclit
die schönste Blüte des Lebens, erst halb erschlossen, ver-
94
welken. Könnte icli Ihnen nur aussprechen, wie unermeßlich
dieser Verlust sein würde! Icli kann es nicht, aber das eine
sage ich mit Wahrheit, daß ich lieber allen meinen gelehrten
Kram in den Wind streuen, ja daß ich lieber sterben würde,
als daß ich auf die Betrachtung verzichtete."
Man muß aber nicht übersehen, daß auch dieses be-
schauliche Denken seine Wurzeln in der griechischen Philo-
sophie hat: in Piatons Lehre von der Anschauung der Idee
des Guten als dem höchsten Ziele des Menschen und be-
sonders des Philosophen, der in diesem Lichte wandelnd
für die niederen Dinge der Welt wie geblendet ist, und in
dem Preise des theoretischen Lebens bei Aristoteles.
Bei der Abreise nach Göttingen schenkte er mir ein
kleines griechisches Neues Testament der Bibelgesellschaft,
in das er das Motto geschrieben hatte: „d dnpwv EhJera) xal
6 '&elojv XajußaveTO) t6 vÖcoo C(ofjg dcogedv'^ (Apoc. 22, 17).
Das Aussehen des Büchleins bezeugt, wie der Dürstende,
dem er's schenkte, getrunken. Unter den Grundlagen der
Meditation, die Brentano außer dem Evangelium schätzte,
erinnere ich mich noch eines mit rührender Naivität in der
Ausmalung geschriebenen Lebens Jesu von Bonaventura in
deutscher Ausgabe.
Zu philosophischen Spaziergängen waren die schönen
Frankenorte Würzburg und Aschaffenburg 1 lochst geeignet.
In Würzburg wohnte Brentano in einem großen Mietshause
am oberen Mainkai gegenüber der Festung. Von da waren
nur wenige Schritte zum „Glacis", der schönen, baumreichen
Anlage, die sich an Stelle der früheren Festungswälle um
die Stadt zog. Das war der gegebene Akademusgarten, in
dem ich sein Begleiter sein durfte, ohne daß wir freiUch
auf die äußeren Schönheiten achteten, die uns von den
subtilen Abstraktionen hätten abstrahieren können. Die
Gestalt des mit langen Schritten und holier Haltung in der
schwarzen Klerik dahinschreitenden, in sich konzentrierten
Denkers war bald in Würzbui-g allgemein bekannt, und es
95
wurde mir später erzählt, daß man in seiner Gesellschaft
sehr regelmäßig einen ebenso blassen und mageren Studenten
gesehen habe, mit dem er auch öfters längere Zeit ins Ge-
spräch versunken auf einem Flecke stehen blieb.
Noch besser war der Boden in Aschaffenburg. Das
Haus der Familie Brentano lag in einer einsamen Seiten-
gasse auf dem hügeligen Mainufer. Man trat durch eine in
ein altes Tor eingefügte Türe zunächst in einen mit Mauern
umgebenen, ziemHch urwüchsigen, mit einzelnen Bäumen
bestandenen Hof, in dem das Gras zwischen den Steinen
wachsen durfte, wie es wollte. Dann kam man in ein alt-
modisches behagliches Haus mit geräumigen Zimmern und
Gängen. Die Wohn- und Besuchszimmer lagen über eine
Treppe. Von einem Balkon hatte man lieblichen Ausbhck
auf den Main, der in einem konvexen Bogen das malerische
Städtchen von der Fischergasse bis zum Schloß und zum
„pompejanischen Hause" hin umzieht, und auf die gegenüber-
liegende Ebene nach dem "Westen zu. Als ich später Bren-
tano in Schönbühel an der Donau besuchte, fiel mir sofort
eine gewisse Familienähnhchkeit seines Hauses und der Um-
gebung mit der Aschaffenburger Heimat auf, und ich zweifle
nicht, daß er bei der Wahl und dem Ausbau des Hauses
auch wirkHch darauf "bedacht gewesen ist. AYie ich nach-
träglich sehe, nennt' er es selbst in einer Postkarte sein
„Neu-Aschaffenburg"', das er sich dort erbaut habe. Und
wie man dort durch einen romantischen Tunnel und Fuß-
pfad zur Donau hinunterstieg und an ihrem Ufer entlang
pliilosophierend wandelte, so führte auch in Aschaffenburg
vom Hofe ein Ausgang zu den Anlagen am Main und über
die Brücke auf das jenseitige freie Ufer, wo man in einer
guten halben Stunde durch eine geradlinige Pappelallee zum
„Schönen Busch", einer großen Parkanlage aus der kurfürst-
lichen Zeit gelangte. Das war der richtige Philosophenweg.
Außerdem konnte man in wenigen Schritten vom Hause
zum Schloßgarten gelangen, der sich um das prächtige und
96 _ __
inassi\(', aus rotem Saiidstejn erbaute E-enaissanceschloB
zi.'lit und den J Ionorati()r-(;ii dnr Stadt zu einsamen Spazier-
gängen zur Verfügung stand. Von da kam man in das „Scheine
Tal", wieder eine (ilacisanlagc, von der aus eine J-*latancn-
allee weiter zur ausgedehnten Waldung der „Fasanerie"
führte. Das alles mag jetzt durch die industrielle Entwick-
lung des Ortes etwas anders geworden sein; damals war es
ideal schön. Für philosoj)liische Studien war übrigens in
Aschaffenburg auch die Königliche Schlofibibliothek eine
gute Hilfe, deren Vorstand, bis 1866 der gute alte Lyzeal-
professor Merkel, Hausfreund der Brentanoschen Familie,
später der meiner Familie befreundete Gymnasialprofessor
Knglert, gern auch gelegentliche Wünsche nach Neuanschaf-
fungen erfüllte. Den Grundstock an Philosophicis verdankte
sie dem Umstände, daß im Anfang des Jahrhunderts Aschaffen-
bnrg, die Winterresidenz der Mainzer Kurfürsten, auch die
Mainzer Universität bis zur Vereinigung der Stadt mit Bayern
(1814) beherbergte und daß der l)ekannto Mediziner-Philosoph
WiiuLischmann als Bibliothekar in einoi- j)hilosophisch sehr
angeregten Zeit für die Vermehrung der Bücherschätze ge-
sorgt hatte. Aus Asciiaffenburg ließ sich Schelling Schriften
von Plotin, G. Bruno, Kepler, Lamarck nach Würzburg
kommen. 1
Das Brentanosche Haus, worin Clemens und sein Bruder
Christian, der Vater des Philosophen, gestorben und die
fünf Kinder aufgewachsen waren, war jetzt still geworden.
Es war nur noch von der verehrungswürdigen Mutter be-
wohnt, die ich nun auch kennen lernte und die mir und
meinem Elternhause bis zu ihrem Tode (1882) in treuer
Freundschaft verbunden blieb. Auch sie war eine auffallende
EIrscheinung, eine schöne, dunkeläugige alte Frau mit aus-
drucksvollen Zügen, im Umgange liebenswürdig, teilnehmend,
lebendig und niclit unempfänglich für das Schöne der Welt,
* Siclie A. Dyroff. ('. .] . Win>lischmunn und sfin Kreis. 1916,
8. 19 ff., S. 71.
97
aber bis zum innersten Kern von kirchlicher Gesinnung und
kirchlichen Interessen durchdrungen. Winters und Sommers
konnte man sie Tag für Tag früh um 6 Uhr zur Messe in
die nicht ganz nahe Kapuzinerkirche Avandeln sehen. Sie
war der Mittelpunkt aller katholischen "Wohltätigkeitsbestre-
bimgen der Stadt, aber auch von auswärts liefen manche
Fäden hier zusammen. Oft hörte ich die Namen der Mainzer
Domherren Moufang und Heinrich; besonders der letztere
stand dem Hause Brentano nahe. Wieviel Freiheit die Kinder
aber trotz der religiösen Traditionen des Hauses genossen haben
müssen, sieht man an ihrer verschiedenen Entwicklung, be-
sonders der des Nationalökonomen Lujo, den sein Naturell schon
sehr früh auf ganz andere imd weltlichere Bahnen lenkte.
Brentano kam nun auch öfters in unsere Familie. Er
fühlte sich da wohl und war ein ausgezeichneter Gesell-
schafter. Das Erzählerblut regte sich, er Avußte die schnur-
rigsten Geschichten, bei denen er selbst aufs herzlichste
lachen und in der Ausmalung komisclier Situationen schwelgen
konnte, und sang mit eigentümlich pathetischem, aber ab-
wechslungsreichem Vortrag und guter Tenorstimme schaurige
Balladen, wie die von der Großmutter Schlangenköchin aus
des Knaben Wunderhorn, die Jung und Alt gruseln machte.
2. Vorlesungen, Leben und Wirken 1866 bis 1870.
Kehren wir nun zu seiner Würzburger Lehrtätigkeit zu-
rück. Auf die Geschichte der Philosophie folgte im Sommer
1867 Metaphj^sik, Winter 1867 Geschichte der Philosophie,
Sommer 1868 Metaphysik (fünfstündig), Winter 1868 Ge-
schichte der Philosophie, Metaphysik I. Teil (Transzendental-
philosophio und Ontologie), Sommer 1869 Metaphysik IL Teil
■(Theologie und Kosmologie) und öffentlich über A. Comte
und den Positivismus im heutigen Frankreish, Winter 1869
deduktive und induktive Logik, Geschichte der Philosophie I
(alte Zeit), Sommer 1870 Metaphysik, Geschichte der Philo-
sophie II (mittlere und neuere Zeit).
Kraus, Franz Brentano. 7
98
Man sieht schon aus diesem Überblick, wie verkehrt
es wäre, Psychologie als den Ausgangspunkt seines syste-
matischen rhilosophiercns anzusehen. Metaphysik war
Anfang und Ende seines Denkens. Dies würde allerdings
nicht hindern, daß die Psychologie zeitweihg in den Vorder-
grund der Arbeit getreten wäre, und tatsäclilich war es auch
so. Aber im Innersten seiner Seele überwog doch das meta-
physische Interesse alles andere. „Ich bin augenblicklich
ganz Metaphysiker", schrieb er mir 1886 aus Wien. „Ich
muß gestehen, nachdem ich ein paar Jahre ganz Psychologe
o-ewesen bin, freut mich der Wechsel." Von der ersten
Metaphysik habe ich noch ein gutes stenographiertes Heft.
Hier sind nicht die Scholastiker, etwa Thomas, sein Ausgangs-
punkt gcAvesen, sondern Aristoteles, den er auch in seiner
Habilitationsschrift mit Dante als den Meister derer, die da
wissen, preist. So hoch er Thomas achtete und so gut er
auch andere Scholastiker kannte, sie waren ihm doch nur
Mitschüler, deren Meinung für ihn kein autoritatives Gewicht
hatte. Aristoteles gegenüber war es anders. Er wußte wolil
und betätigte auch ihm gegenüber, daß in der Philosophie
Autorität als solche keine RoUe spielen dürfe. Aber in
aristotelischen Lehren hatte er soviel Wahrheit und Tiefe
gefunden, daß er ihnen eine gewisse vorgängige Walirr
scheinhchkeit, ein gewisses Vorrecht, gehört zu werden, zu-
erkannte, was natürlich eine Prüfung und Verwerfung nicht
ausschloß. So stellen sich ja heute \iele etwa zu Kant. In
diesem und nur in diesem Sinne war der Stagirite seine
vornehmste Autorität, und seine Bewunderung für ihn wurde
im Laufe der Zeit, obgleich er sich immer Aveiter von seinen
Lehren entfernte, nicht geringer, sondern eher größer, wie
man ja auch an seinen letzten Schriften erkennt.
Der Anschluß und die Loslösung läßt sich nun in seiner
ersten Metaphysik- Vorlesung aufs genaueste verfolgen. Der
Anfang, Definition, Wert, Stellung unter den Wissenschaften
ist wie ein Kommentar zu den ersten Kapiteln der aristo-
99
telischen Metaphysik. Kurz spricht er auch über das Ver-
hältnis zum Glauben. Die übernatürliche Theologie wird als
Stella rectrix, aber nicht als unentbehrliche Voraussetzung
und Hilfe der Metaphysik bezeichnet. Eine Neuschöpfung
Brentanos ist dann aber sogleich der erste Teil, die Trans-
zendentalphilosophie. Der Name und die allgemeinste Ten-
denz erinnern an Kant, aber Brentano selbst dachte auch
liier an Aristoteles' Verteidigung der Vernunftprinzipien
Met. IV, 3ff. anzuknüpfen. Er stellte zunächst die schärfsten,
von ihm noch verschärften Einwendungen des Skeptizismus
gegen die äußere und die innere Wahrnehmung, die Axiome,
die abgeleitete Erkenntnis und die Erkenntnis überhaupt
zusammmen, zeigte dann die innere Unmöglichkeit des
absoluten Skeptizismus, stellte die positive Grundlage des
Erkennens fest und gab endhch die Lösung der Einwände.
Diese Form des Vorgehens, die er mehr oder weniger bei
allen größeren Untersuchungen dui'chführte, erinnert zu-
nächst an die des Thomas, wenn dieser in jedem Artikel
zuerst die Einwendungen, dann das „Sed contra", dann die
positive Darstellung im Corpus articuli, endlich die Lösung
der Objektionen bringt. Aber die Hochscholastilver ahmten
ja eben auch nur das Beispiel des Aristoteles nach, der bei
ausgeführteren Untersuchungen von Aporien ausgeht, dann
das Fimdament festlegt {jiqmxov juev ovv), die Theorie ent-
wickelt und mit der Beantwortung der Aporien schließt.
Li der Tat hat dieses Vorgehen, wenn es nicht so stereoty]3
wie bei den Scholastikern, sondern nur gelegentlich, bei
größeren Untersuchungen und immer mit Abänderungen
je nach dem Stoff und den Erfordernissen des augenblick-
lichen Zusammenhanges angewandt wird, viel Empfehlens-
wertes für die Forschung wie für die Darstellung. Durch
die kräftige Vergegenwärtigung der Schwierigkeiten wird
das Literesse angestachelt, der Boden umgepflügt, und das
Ganze gewinnt eine dramatische Spannung, die denn auch
die Hörer Brentanos stets empfanden.
7*
100
\
Die innerliche Spannung war aber bei der ersten Meta-
physik Brentanos nicht bloß auf selten der Hörer, sondern
auch des Lehrers selbst. Brentano hat mir noch in den
AVürzburger Jahren gestanden, daß er die Vorlesung so-
zusagen ganz aus der Hand in den Mund gearbeitet und
seine Nerven dabei in einer kolossalen Weise angestrengt
habe. Er habe die schärfsten Einwürfe gegen die Möglich-
keit des Erkennens vorgetragen, ohne noch genau zu wissen,
wie er sie beantworten werde, nur im Vertrauen darauf , daß
es gelingen müsse.
Von Interesse für seinen erkenntnistheoretischen Stand-
punkt ist besonders die allgemeinste Erkenntnis- Aporie und
deren Lösung. Sie lautet: „Meiner Erkenntnisfälligkeit kann
ich wieder blind vertrauen, noch kann ich sie prüfen. Um sie zu
prüfen, müßte ich mich derselben Erkenntnisfähigkeit bedienen,
deren Zuverlässigkeit ich prüfen wdll. Also kann ich niemals
einer Erkenntnis mit Zuverlässigkeit gewiß sein." Die Antwort
lautet: „Ich kann auch sehend A^ertrauen. Ist ein Satz un-
mittelbar evident, so bedarf es zu seiner Erkenntnis keiner
Prüfung, auch nicht der der Erkenntniskräfte. Wir stützen
uns allerdings in gewissem Sinne auf die Zuverlässigkeit
imserer Erkenntniskräfte, indem wir uns ihrer bedienen;
aber nicht bedienen wir uns ihrer als Prämisse. Somit
kann von einem Zirkelschluß keine Rede sein."
Als unmittelbar evidente Erkenntnisse bezeiclinet Bren-
tano die logischen Axiome und die Tatsachen der inneren
Wahrnehmung. Die Notwendigkeit, ihnen zuzustimmen,
wurzelt nicht in einem blinden psychologischen Zwang,
sondern in ihrer inneren, selbstleuchtenden Evidenz. Zu
sagen: „Ich könnte so eingerichtet sein, daß ich gerade
dem zustimmen muß, w^as falsch ist" heißt soviel als: „Ich
bin ungewiß, ob niclit das falsch ist, wovon ich gewdß bin,
daß es wahr ist." In der großen Metaphysik 1869 ist dies
noch etwas erläutert: „Wir können keck sagen, daß uns
weder die Natur noch Gott hier täuschen. Selbst Gott kann
101
nicht bewirken, daß uns e%'ident wäre, ßot sei ein Ton,
2 -(- 1 sei = 4. Sein Wille würde damit sich selbst wider-
sprechen. Wer ihm also diese Macht abspricht, leugnet nicht
seine Vollkommenheit, sondern seine Un Vollkommenheit."
Brentano spielt hiermit auf eine bekannte Streitfrage der
Scholastiker an, zu welcher noch Descartes in bejahendem,
Leibniz aber in verneinendem Sinne Stellung nahmen. IVIit
Leibniz also stimmt Brentano überein. Er folgerte weiter,
daß das Evidente nicht nur für unseren Verstand, sondern
für jeden möglichen Verstand wahr sei, weil es eben nur
das eigene Licht der Sache selbst sei. Vom Psychologismus
also, der die logische Notwendigkeit aus einer psychologischen
herleiten will, war er himmelweit entfernt.
Eingehend rechtfertigte Brentano dann in der Ontologie
seine Abweichuno;en von Ai'istoteles betreffs der Kateo-orien-
lehre, der Unterscheidung ven Materie und Form u. a. Überall
löst er sich nur schrittweise, auf Grund zwingender Über-
legungen von seinem Ausgangspunkte. Den Gottesbeweisen
widmete er besondere Aufmerksamkeit, um trotz Kants
Verdikt, das ja schon seine nächsten Nachfolger, das auch
Lotze und Fecliner unbeachtet ließen, die Schlüssigkeit der
Zurückführung aller Erscheinungen auf einen göttlichen
Ursprung logisch zwingend zu gestalten.
Da ich mich während der ersten Hälfte des Jahres 1867
mit der größten Intensität auf Philosophie und Naturwissen-
schaften gestürzt hatte, hielt mich Brentano bereits für reif
genug, um auch andere bedeutende Philosophen kennen zu
lernen, imd empfahl mir nach Göttingen zu Lotze zu gehen,
dort auch naturwissenschaftHche Studien weiter zu treiben
und zu promovieren. Dies führte ich auch aus und kam im
August 1868 als Doktor zurück. Ein höherer Gewinn noch
war die persönHche Freundschaft Lotzes. Mit Brentano blieb
ich inzwischen durch Briefwechsel verbunden. Die leitende
Hand, das beobachtende Auge, das fürsorgende Herz des
Lehrers fehlten auch dem Entfernten nicht. Einen Belee
102
haben wir schon angeführt. Einen Hauptgegenstand des wissen-
schaftliclien Scliriftwcchscls bildeten Lotzcs Anscliauungen,
mit denen Brentano nur sehr teilweise übereinstimmt. Er
berichtet aber auch über Weiterbildungen seiner eigenen
metaphysischen Vorlesungen, besonders in Hinsicht des
Raumes und der Kausalität. Ausführlicheres enthalten aber
die Briefe hierüber nicht. Dagegen liegen mir die Vor-
lesungen von 1868 bis 1870, denen ich wieder persönlich
beiwohnte, in ausführlichen Nachschriften vor.
Bevor ich diese Vorlesungen charakterisiere, sei einiger
Schüler gedacht, die sich in diesen und den folgenden Würz-
burger Jahren näher an Brentano anschlössen. Im Herbst
1868 fand sich Marty aus Schwyz unter seinen Zuhörern
ein, und es entspann sich das enge Freundschaftsverhältnis,
das uns untereinander und mit dem gemeinsamen Lehrer
zeitlebens verbunden hielt. Ein Dritter im Bunde war da-
mals der Rheinländer van Endert, ein kluger Mensch mit
angenehmem trockenem Humor. Er ist später, glaube ich,
Domherr in Köln geworden, aber die Verbindung wurde
nicht fortgesetzt. Da wir drei in der zweisemestrigen Meta-
phj^sikvorlesung (wo die Teilnehmer im übrigen bei der un-
erhörten Ausdehnung der schwierigen Detailuntersuchungen
lange nicht so gut aushielten wie früher) immer zusammeri-
saßen, nannte uns Brentano die heiligen drei Könige. Er
liebte es, gelegentlich solche gutmütigen Scherzworte zu
erfinden. So stellte er mir später in Wien einen für die
Evidenz des Selbstbewußtseins besonders begeisterten Schüler
als „Seine E^ndenz die innere Wahrnehmung" vor.
Erst einige Jahre nach mir, wohl 1870, kam Hermann
Schell, der spätere Führer des deutschen Modernismus, ein
ernster und gründlicher Kopf, zu Brentano, dem er seine
philosophische Aiisbildung und seine freie, wenn auch nicht
bis zum Ende gehende Denkweise verdankte, dem er auch
sein Buch über die Einheit der Seele bei Aristoteles widmete
imd später persönlich und brieflich verbunden bHeb.
103
Auch Johannes Wolff gesellte sich anfangs der siebziger
Jahre zu Brentano und wurde von ihm nach Göttino^en p^e-
sandt, als ich dort bereits dozierte. Er schrieb unter meiner
Leitung die Ai'beit über Platonische Dialektik und ver-
öffentlichte später ein nicht unverdienstliches psychologisches
Werk „Das Bewußtsein und sein Objekt", erhielt eine An-
stellung als Lehrer der Philosophie in Trier, später in Frei-
burg (Schweiz). Mehrere Briefe Brentanos an mich über
Wolff bezeugen, in welchem Maß und Umfang sich Bren-
tano die Weiterbildung seiner jungen Freunde angelegen
sein ließ. Bis in alle Einzelheiten hinein erkundigt er sich
und gibt Ratschläge.
Andere Schüler Brentanos aus jener Zeit, die später
als Schriftsteller und Lehrer bekannt wurden, waren Schütz
(Trier), Kirschkamp (Bonn) mid Commer (Wien), der An-
kläger Schell's.
Unser siebenter E-eichskanzler, Graf Hertling, gehörte
gleichfalls damals zu Brentanos Schülern und Avurde von
ihm stets als solcher angesehen; doch Aveiß ich nicht, ob er
Vorlesungen bei ihm gehört hat. Er ist ein Vetter Brentanos,
kam in jener Zeit öfters nach Aschaffenburg, avo auch eine
Linie v. Hertling Avohnte, und hatte da und in Wüi'zburg
\äel Verkehr mit Brentano. Er machte zwei bis drei Jahre
nach ihm, ganz wie Brentano selbst, in Münster, München
und Berlin bei Trendelenburg seine philosophischen Studien,
promovierte mit einer Dissertation aus Aristoteles' Ontologie
(De notione unius) und veröffentlichte 1871 ein gründliches
Buch über „Materie und Form und die Definition der Seele
bei Aristoteles", das unmittelbar an Brentanos „Psychologie
des Aristoteles" anknüpft und darauf ruht. Daß Brentanos
Vorbild und Geistesarbeit Avährend seiner kirchlichen Zeit
im höchsten Maße auf v. Hertling eingoAvirkt hat, ist außer
Zweifel. Die Unfehlbarkeitserklärung 1870 stellte aber
V. Hertling A^or eine schwere Wahl, und seine Wege trennten
sich seitdem A'on denen Brentanos. Wie das persönliche
104
Verhältnis sich später gestaltet hat, davon habe ich nur
fragmentarische Kenntnis imd bin nicht berechtigt, darüber
zu sprechen.
Im Winter 1868/69 las Brentano wieder Geschichte der
Philosophie, worin namentlich sehr ausführliche Ergänzimgen
zu Aristoteles und den Scholastikern mir wertvoll waren.
Brentano wagte da weit tiefer in die subtilsten Einzelnheiten
dieser ohnedies so subtilen Systeme einzudringen, als es sonst
in Vorlesungen üblich ist. Vor allem aber fesselte uns die
stark ausgearbeitete Metaphysik, die er jetzt zum dritten
Male las. Er verteilte den Stoff auf zwei Semester und las
jedesmal fünfstündig. Meine Niederschrift umfaßt einen steno-
graphierten Quartband von 822 Seiten. Die Gelehrsamkeit und
der Scharfsinn der Ausführungen setzen mich auch jetzt noch
immer wieder in Erstaunen. Das Ganze mit baumeisterlicher
Kunst entworfen und gegliedeit, jedes Einzelne sich wieder
zu einem abgerundeten Ganzen erweiternd; hierin in der
Tat an die großen scholastischen Summen und mit ihnen
an die mittelalterlichen Meisterwerke der Baukunst erinnernd.
Als wichtigste Untersuchungen seien nur erwähnt die über
Raum, Zeit und Bewegung, besonders die musterhaften Aus-
führungen über die zenonischen Schwierigkeiten ; die Theorie
des euklidischen Parallelensatzes, ein den damaligen Pliilo-
sophen noch nicht so wie den heutigen geläufiges Thema;
die Erörterungen über physische, metaphysische, logische
Teile; die originelle Begründung des Kausalgesetzes durch
„immanente Induktion" (aus dem Veränderungsbegriff ab-
geleitete unendliche Wahrscheinlichkeit); ferner die äußerst
"sorgfältige Ausarbeitung des teleologischen Gedankenganges,
wo zwischen dem rein Tatsächlichen, d. h. dem Anschein
einer alles durchdringenden Zweckmäßigkeit, und den Er-
klärungsversuchen scharf geschieden, die Dysteleologien
unter vernichtender Kritik der Vogt'schen Oberflächlich-
keiten in Hinsicht des Auges und der Lange'schen in Hin-
sicht der Keimverschwendung diskutiert, dann zm- Ent-
105
wicklungslehre, im Prinzip zustimmend, in der darwinistischen
Form aber ablehnend Stellung genommen, und für die posi-
tive Formulierung und Schlußziehung dieWahrscheinlichkeits-
prinzipien in \"iel ausgiebigerer "Weise herangezogen wurden,
als es schon in der ersten Metaphysik der Fall Avar. Von
dieser Zeit datiert die einschneidende Bedeutung, die Bren-
tano den mathematischen Wahrscheinlichkeitsgesetzen bei-
mißt, denen er dann auch in der Logik eine wichtige
Stellung einräumt.
Gelegentlich des Realitätsbegriffes wirft Brentano Seiten-
blicke auf die theologischen Probleme der Trinität und In-
karnation und sucht zu zeigen, Avie man ohne direkte innere
Widersprüche damit fertig werden könne; aber es geht doch
schon sehr nahe daran vorbei.
Was Brentano veranlaßte, im Sommer 1869 auch eine
öffentliche Vorlesung über Comte und den Positivismus
zu halten, weiß ich nicht. Vielleicht hat der englische
Empirismus — daß er sich mit Mills Logik eingehend be-
schäftigt hatte, zeigt die Metaphjsikvorlesung — und hat Mills
Schrift über Comte ihn dazu geführt. Die Annäherung an
die ausländischen Bestrebungen bereitet sich vor, die bald
noch weiter greifen sollte. Im übrigen verdienten ja auch
Comtes Persönlichkeit und ihre Entwicklungsgeschichte sowie
die in Deutschland noch nicht so bekannten Lehren des
Positivismus eine solche Aufmerksamkeit. Selbstverständlich
fehlte nicht die kritische Stellungnahme.
Im Oktober 1869 trat ich nun wirldich ins Würzburger
Priesterserainar und begann theologische Studien, h()rte aber
zugleich Brentanos Vorlesungen weiter. Er las im Winter
1869/70 zum ersten Male Logik und daneben den ersten
Teil der Geschichte der Philosophie, die nun auch in zwei
große Vorlesungen zerlegt wurde. Die angekündigte Logik
begann aber erst nach Weihnachten; in den Monaten vorher
behandelte er in 28 Vorlesungsstunden die Unsterblich-
keit der Seele. Er argumentierte da (auch darüber habe
106
ich fast wörtliche Nachschriften) zuerst auf der Grundlage
des Atomismus, aber nur ad hominem, da er diese Grund-
lage nicht teilte; dann ging er zu einer Vergleichung der
menschlichen und tierischen Funktionen über, die ihn zum
■erstenmal in den Vorlesungen auf ausgedehntere psycho-
logisclie Untersuchungen führte, und folgerte schließlich,
daß die menschliche Seele einem Teile nach als etwas
Geistiges anzusehen sei, ähnlich wie es Aristoteles vertreten
hatte. Gerade aus der wesentlichen Gleichheit des Gehirn-
baues beim Menschen und den Anthropoiden, worauf die
Materialisten sich stützen, zog er den Schluß, daß die un-
leugbaren mächtiofen Unterschiede des Seelenlebens, deren
"Wurzel er mit Aristoteles im begrifflichen Denken suchte
einen immateriellen Träger haben müssen.
Es war eine schön abgerundete Darstellung, deren
Standpunkt er aber später in mehreren wesentlichen Punkten
verlassen hat, indem er die sensitiven Funktionen nicht
mehr dem Körper als Subjekt zuschrieb und indem er anderer-
seits von dem hier noch vertretenen Indeterminismus zum
Determinismus überging. Beides düi'fte schon in den ersten
Wiener Jahren geschehen sein. Bemerkenswert ist, daß die
Absonderung des Zustimmens vom bloßen Vorstellen und
die Dreiteilung der psychischen Funktionen in Vorstellen,-
Urteilen und Begehren (wie er damals nach Aristoteles die
emotionelle Grundklasse nannte) bereits hier vorgetragen
wurde. Wahrscheinlich war sie bereits 1866/67 seine Über-
zeugung, als er in der Geschichtsvorlesung Wilhelm von
Occam wegen der Scheidung der actus judicandi von den
actus apprehendendi besonders lobte.
Nun folofte die Loo-ik: und hier stürzte sich Brentano
mit A^oller Kraft auf eine vollständige Revision der alten
Überheferungen. Er nimmt den Ausgang von Betrachtungen
über die Gedanken und ihren Ausdruck in der Sprache vmd
unterscheidet sowohl bei den Namen wie bei den Aussagen
das, was sie ausdrücken (die psychischen Funktionen, die
107
sich, in ihnen kundgeben) von dem, was sie bedeuten. Eine
Aussage bedeutet, daß etwas anzuerkennen oder zu ver-
werfen sei. Dies nannte Brentano den Urteilsinhalt. Er
kann spraclilich in infinitivischer Form oder in Daß-Sätzen
ausgedi'ückt werden. Dieser (von mir später als „Sachverhalt"
bezeichnete) Begriff ist u. a. darum wichtig, weil die ganze
Klasse der indirekten Urteile (Es ist möglich, notwendig,
wahrscheinlich, wahr, falsch, daß . . . .) sich nach seiner da-
mahgen Darstellung auf Eigenschaften solcher Urteilsinhalte
bezieht. Urteils materie nannte Brentano die Gesamtheit
der dem Urteil zugrundeliegenden Yorstellungen. Die Form
oder Qualität des Urteils endlich ist Bejahung oder Yer-
neinung, d. h. Behauptung oder Verwerfung der Urteils-
materie. Hierauf gründete Brentano seine Lehre vom
Existentialsatz als der einfachsten Aussageform, auf die
sich die kategorische wie alle übrigen zui'üclvfüliren lassen.
Man erhält dann nur allgemein verneinende und partil^ular
bejahende Urteile, es gibt auch keinen anderen Gegensatz
zA^-ischen Urteilen als diesen kontradiktorischen, und es
lassen sich alle Urteile, richtig ausgedi'ückt (also z. B. die
sog. allgemeinbejahenden als allgemeinverneinende), einfach
konvertieren. So sah sich Brentano zu einem Umsturz und
einer außerordentlichen Vereinfachung der gesamten Urteils-
lehre geführt, die wir Zuhörer mit wachsendem Erstaunen
und mit Bewunderung der unerbittlichen Konsequenz der
Darstellung vernalimen.i Weiter kam er diesmal nicht,
da das Semester zu Ende Avar.
* Es liegt hier ein merkwürdiges, bereits von W. Freytag (Arch.
f. d. ges. Psychologie Bd. 33 S. 140) bemerktes Zusammentreffen mit
Leibniz vor, der 1686 in seinen „Generales inquisitiones de analysi
notionum et veritatum" § 113—121 bereits die Cberführbarkeit aller
kategorischen Aussagen in Existentialsätze in genau derselben Weise
aufgezeigt hat. Diese erst von Couturat ans Licht gezogene und 1903
veröffentlichte Sclirift, zu der Leibniz selbst die Bemerkung setzte:
„hie cgregie progressus sum", war Brentano unbekannt. Er würde
bei seiner Verehrung für Leibniz ihn sicherlich zur Stütze seiner
108
3. 1870: Umwandlung seiner religiösen Über-
zeugungen.
Aber dieses Frülijalir ISTO hraclite in ilirn selbst noch
eine andere und für sein Leben folgenreichere llevolution
zustande: die Um wandhing seiner religiösen Überzeugungen.
^lan iiml.) in ilicscr llinsiclit auseinanderhalten die Er-
eignisse im kirclihchen Leben und die logisch-metaphysischen
Überlegungen, die ihn auf die inneren Unmöglichkeiten der
Glaubenslehren führten und ihn sicherlich über kurz oder lang
auch ohne jede äußeren Veranlassung dahin geführt hätten.
l'rentano war niemals ein Freund der jesuitischen Rich-
tung in der Kirche gewesen, weder im Theoretisclien noch
im Praktisclien. Die so])histischen Deutungen des „Pro-
babilismus" in moralischen Angelegenheiten, wie sie bereits
Pascal in den Lettres Provinci ales gegeißelt hatte, fanden
ebensowenig seinen Beifall wie die Vermittlungsversuche
in den theologischen Streitfragen über das göttliche Wissen
und AVirken. Vor allem aber erschien ihm die Herrschsucht
des Ordens verwerflich. Nun war schon im Spätsommer 18(59
die Frage der Unfehlbarkeitserklärnng des Papstes eine
brennende geAvoixlen. Die Jesuiten drängten mit aller Macht
auf die feierliche Erklärung hin. In Deutschland war starker
Widerstand, und nicht bloß von Döllinger und den Seinen,
sondern auch von den Bischöfen, Avie Ketteier in Mainz und
Hefele in Rottenburg, sowie dem gelehrten Benediktinerabt
Haneberg in München. Nicht minder opponierten auswärtige
hervorragende Katholiken, Montalembert, Gratrj, Bischof
Stroßmajer in Ungarn, Lord Acten u. a. Die deutschen
kühnen Lehre herangezogen haben, ebenso wie er für seine Lehre
vom L'rteilen als Grundfunktion neben Vorstellen und Fühlen auf
Descartes" Vorgang hinwies. Mit Unrecht schreibt aber Couturat (La
Logique de Leibniz, p. 19, 350) die Wiederentdeckung dieser Lehre,
sowie die Ungültigkeitserklärung der Modi Darapti, Felapton, Bra-
mantip und Fesapo dem Mac Coli 1878 zu; beides ist von Brentano
bereits vorher gelehrt und 1874 auch veröffentlicht worden.
109
Bischöfe hielten in Fulda eine Konferenz. Brentano wurde
durch den Mainzer Bischof Ketteier veranlaßt, dafür eine
Denkschrift in der Sache auszuarbeiten. Er hat mir diese
Denkschrift, zu der er eingehende historische Studien ge-
macht hatte, in den Sommerferien 1869 in Aschaffenburg
auf dem Buschwege vorgelesen. Sie behandelte in knapper,
aber eindrucksvoller Weise die Fehlgriffe der ex cathedra
sprechenden Päpste früherer Zeiten und die sonstigen gegen
die Unfehlbarkeitslehre vorzubringenden Argumente. Sie
soll denn auch von großer Wirkung gewesen sein. Selbst-
verständlich erregte diese kirchliche Angelegenheit Brentano
wie alle an den Schicksalen der Kirche teilnehmenden Katho-
liken sehr, und die Nachrichten über die Zwischenfälle des
Konzils in Rom (Ketteier soll sogar einen Fußfall getan
haben) wurden mit größter Spannung aufgenommen.
Gewiß lag nun in diesen äußeren Umständen für Bren-
tano eine psychologische Veranlassung, sich aufs neue in
die logischen Schwierigkeiten der kirchlichen Mysterien,
an denen er, wie wir erwähnten, schon in der letzten Meta-
physik nur etwas knapp vorbeigekommen war, zu vertiefen.
Eigentlich ist es dem gläubigen Katholiken überhaupt unter-
sagt, ernstlich zu zweifeln, und die Sündhaftigkeit eines
solchen ernsthaften Zweifels, der nicht sofort aus der Seele
gescheucht wird, bildet eines der stärksten Festungswerke,
mit denen sich die Kirchenlehre umgeben hat. Aber irgend
einmal ringt sich, wenn die innere Not zu groß Avird, der
Entschluß, der Vernunft ihren Lauf zu lassen, doch von der
Seele. Und dies muß bei Brentano im Frühjahr 1870 ein-
getreten sein. Von diesen Kämpfen mit sich selbst erhielt
ich, hinter den Mauern des Seminars lebend und nur ge-
legentlich von ihm besucht, zunächst keine Kenntnis. Sicher
wollte er mich auch nicht einAveihen, um meine eigene
Gemütsruhe zu schonen. Am 15. März erhielt ich allerdings
aus Aschaffenburg einen merkwürdigen Bi-ief, worin er mir
den Austritt nahelegte, indem er mir vorstellte, daß ich bei
110
den jetzt eingetretenen Umständen auf eine staatliche Pro-
fessur nicht zu reclmen haben würde, wenn ich Priester
würde. Aber dies machte mir gar keinen Eindruck. Es ist
mir jetzt nicht unwahrsclieinhch, daß Brentano in diesem
Zeitpunkt in seiner inneren Krisis schon so weit war, daß
er mich für alle Fälle von dem entscheidenden Schritt ab-
halten woUte. Aber zum Bruche mit dem Glauben war er
noch nicht gekommen, das zeigt der sonstige Inhalt des
Briefes.
Dagegen am 29. April trug er mir, aus dem Aschaffen-
burger Ferienaufenthalt zurückgekommen, bei einem Besuch©
Bedenken gegen die Dogmen der Trinität und Inkarnation
vor, die ihm trotz all der üblichen Distinktionen von Sub-
stanz, Subsistenz, Suppositum, Natur, Person, Hypostase
unlösbar schienen. Am 3. Mai folgten weitere Bedenken
gegen den Begriff des Glaubens selbst, wie er von der
Kirche gefaßt wird. Ich wußte sie auch nicht zu lösen.
"Wie mir zu Mute war, als ich sah, daß es diesmal Ernst
wurde, und was ich in den folgenden Tagen und Nächten
erlebte, gehört nicht hierher. Aber ich kann seinen eigenen
Zustand in diesen Zeiten verstehen; Avar er doch von Kind-
heit an noch fester mit den kirchlichen Überzeugungen ver-
wachsen, die Hoffnung und der Stolz seiner strenggläubigen
Mutter, und Träger jenes furchtbaren „character indelebihs",
der ihm noch so viele Kämpfe kosten sollte. Um füi- ihn
und mich selbst den Übergang zu erleichtern, verließ ich
erst am 18. Juli 1870 das Seminar und gab als Grund nur
an, nicht mehr den Beruf zum Priester zu fülilen, Avas mir
schheßlich niemand verdenken konnte. Zum Glück hatte
ich noch keinerlei "Weihen empfangen und konnte gehen^
wie ich gekommen war. Da Lotze, der von allem unter-
richtet war, die Absicht einer Habilitation in Göttingen
freundlich begrüßte, arbeitete ich in den Ferien in München
eine Habilitationsschrift über die mathematischen Axiome aus
und konnte mich bereits im Oktober als Dozent niederlassen.
^ 111
Es sind später, als Brentanos Abfall ruchbar wurde, aUe=
möglichen Vermutungen oder Behauptungen über seine
Motive aufgestellt worden. Die kirchliche Fama ist in solchen
Fällen sehr geschäftig, da nach kirchlicher Auffassung der
Verlust der göttlichen Gnade, die dem Zustande des Glaubens
zugrunde liegt, irgendwie doch in der Gesinnimg und Lebens-
führung wurzeln muß. Er sollte Heiratsgelüste haben, was
ja auch in manchen Fällen dieser Ai-t unleugbar zutraf, er
sollte ehrgeizige Pläne verfolgen, sich bei den Staatsgewalten
lieb Kind machen wollen usw. Andere sprengten aus, er sei
irrsinnig geworden, und dieses Gerücht kam auch in die
Zeitungen. Irgendwie sollte das Äi-gernis gemildert Averden.
In Wahrheit ging es aber so zu, wie hier geschildert
wurde. Brentanos Motive waren ausschließlich theoretischer
Natur, sie lao-en schlechthin in nichts anderem als in den
inneren "Widersprüchen der Kirchenlehre, für deren Lösung;
auch sein scharfsinniger Geist nach jahrelangem Ringen,
keine Möglichkeit mehr fand. Noch eine gute Weile nachher
wurde er nicht müde, immer aufs neue die Schlußfolgerungen
zu überprüfen, die ihn dazu gefülirt hatten, und alle
nur irgend ersinnlichen Möglichkeiten eines Ausweges zu
versuchen. Noch am 19. November schrieb er mir nach
Göttingen von einem Enneakilemma, einer neungliedrigen.
Disjunktion, in die er jetzt die Widersprüche im Trinitäts-
dogma zusammengefaßt habe. Er hat es mir später auch
vorgetragen. Mir selbst waren diese vielgipfligen Erwägungen
nicht so überzeugend wie die einfacheren in Hinsicht des
Glaubensbegriffes, da die beständigen Anstrengungen, die für
den Glaubenszustand beanspruchte absolute Gewißheit auch
in bezug auf geschichtliche Ereignisse längst vergangener
Zeiten gegenüber den Mängeln und Widersprüchen der Über-
lieferung in sich aufrecht zu erhalten, ein psychologisches-
Erlebnis darstellten, das mich wie so viele Gläubige immer
wieder bedrückt hatte. Aber Brentano war eine durchaus
intellektuell verankerte Natur. Anlage und Selbsterziehung
112
hatten sein ganzes Gefülils- und "Willensleben vollkommen
der Herrschaft des Verstandes unterworfen. Ich liabo nie-
mals einen Menschen gekannt, bei dem dies auch nur an-
nähernd in solchem Maße der Fall war. Es fehlte ihm
keineswegs an Zartheit und Stärke des Fühlens, im Gegen-
teil, wir alle, die mit ihm verkehrten, kannten sein weiches
Herz. Was er Einzelnen, was er ganzen Familien gewesen
ist, wie er sich für Not- oder Unrechtleidende mit ganzer
Kraft einsetzte, davon ließe sich manches sagen, wenn es
nicht in seinem Sinne wäre, es zu verschweigen. Und so
hatte vor allem die Religion von seinem Gemüte Besitz
ergriffen. Aber er ließ, so sehr er ihre Geheimnisse auf
sich wirken ließ, niemals die Zügel des „Logistikon", das
bestimmt ist, den Wagen der Seele zu lenken, aus der Hand.
Er blieb auch darin der Nachfolger Sokrates', Piatons und
Aristoteles', deren Vorbild ilin nicht minder wie das der
christlichen Heiligen leitete.
Alles, was Tausende schon in früher Jugend der Kirche,
A-iele auch der ßeligion überhaupt, entfremdet, von dem
tädichen Anblick der Welthchkeiten und Menschlichkeiten
der Kleriker bis zu den Greueln der Ketzerverfolgvmgen
und den päpstlichen Schandtaten früherer Jahrhunderte —
alles dieses würde nichts über ihn vermocht haben. Da-
^esen Heß sich noch zur Not mit Unterscheidungen auf-
kommen, wie sie in der Schule gebräuchlich sind. Ebenso
waren es aber auch nicht in erster Linie die historischen
Schwierigkeiten des drohenden Unfehlbarkeitsdogmas, die
ihn zum Abfall brachten. Sie hatten für ihn nicht das
ausschlaggebende GcAvicht wie für viele denkende Katho-
liken jener Zeit; er würde doch sonst aucli mit seiner
inneren Entscheidung gewartet haben, bis das Dogma wirk-
lich als solches erldärt wui'de, was erst am 2. August der
Fall war. Während aber mehr historisch als philosophisch
gerichtete Geister dadurcli eben auch nur zur Lossagung
vom Papste, zum Altkatholizismus geführt Avurden, im übrigen
- 113
aber auf christlicliem und katholischem Boden stehen blieben,
führten Brentanos Überlegungen zum inneren Bruche mit
dem Katholizismus, ja mit dem Christentum überhaupt. Man
hat ihm im folgenden Jahre nahegelegt, die Adresse an
DrJlinger zu unterschreiben und der Reformbewegung bei-
zutreten. Er leimte es ab. Auch der Protestantismus erschien
ihm nur als eine Halbheit; er hat, soviel ich weiß, nie
daran gedacht, überzutreten. Füi- ihn gab es nur ein Ent-
weder-Oder.
Auch Döllinger war zwar eine theoretische Natur, ja
man kann wohl geradezu sagen, ein Verstandesmensch.
Aber fü]- ihn verteilten sich die Gewichte der Überlegung
in umgekehrtem Sinne. Er hatte keine philosophische Ader,
sondern ausscliließKch Historikerblut. Im Falle des Alt-
katholizismus liat allerdings sogar in historischen Dingen
der Philosoph gegen den Historiker Recht behalten: die
Nebenkirche hat sich nicht erhalten können, ihre Lebens-
kraft ließ nach mit dem Nachlassen des Kulturkampfes und
dei- staatliclien Gunst. Ein katholisches Kirchenwesen ohne
die einheitliche Spitze des Papsttums scheint nun einmal
nicht möglich.
Brentano brachte die Ferien 1870 in München zu, wo
er sich dem edlen Haneberg eröffnete, den ich durch ihn
auch kennen lernte. Dieser redete ihm zu, vorläufig noch
nicht mit seinen veränderten Überzeugungen an die Öffentlich-
keit zu treten, wie es auch geschah. Döllinger, den Brentano
als Student gehört und auch persönlich kennengelernt hatte,
hat er meines Wissens damals nicht aufgesucht.
Der große Krieg, die Kämpfe und Siege unserer Truppen
in Frankreich während dieser Monate lösten in uns, das
muß icli offen gestehen, nicht das patriotische Hochgefühl
aus wie in dem größten Teile des Volkes. Es gab in Süd-
deutschland damals doch manclie, die das Jahr 1806 noch
nicht vergessen konnten. Auch mein Vater und ich gehörten
dazu. Bewunderten wir auch die Stoßkraft unserer Truppen
Kraus. Kran/. Hn-ntano. 8
unter preußischer FühruD^, so bedauerten wir doch das
pohtische Übergewicht Preußens und brachten Bismarck
nichts weniger als Zuneigung entgegen. Erst später begann ich
allmählich umzudenken. Brentano aber betrachtete Bismarck
fortdauernd als den bösen Geist Deutschlands. Er war und
blieb ein Großdeutscher. Er konnte den Ausschluß Öster-
reichs nicht verwinden und sah in Bismarck nur den Träger
einer verwerflichen Machtpolitik. Die Erinnerung an die
Behandlung seines Vaters durch die preußische Regierung
im Kölner Bischofsstreite (worüber mir Näheres übrigens
nicht bekannt ist) mochte dabei wohl auch mitspielen; denn
er hatte eine sehr lebendige Empfindung für die Geschichte
und Tradition seiner Famihe. Daß sein Vetter und Schüler
V. Hertling einmal Bismarcks Amt in schwerster Zeit weiter-
führen sollte, hätte man sich damals freilich nicht träumen lassen.
Nach den kirchlichen Gesetzen konnte Brentano seine
geistliche Würde nicht ablegen, ohne zugleich aus der
Kirche in aller Form auszutreten. Diese förmliche Nieder-
legung und Austrittserklärung verschob er volle drei Jahre.
Erst im Frühjahr 1873 hat er sie in Würzburg vollzogen.
Bis dahin trug er das geistliche Gewand und hielt sich
längere Zeit auch noch äußerlich an die ihm vorgeschriebenen
Handlimgen. Er las an Orten, wo es nicht anders ging, die
Messe, bei deren Zeremonien er sich eben in ähnlicher Weise,
wie es freiere protestantische Prediger bei den überlieferten
kirchlichen Formeln tun, innerlich zur Anbetung des Höchsten
im Geist und in der Wahrheit erhob, ohne sich viel um das
gesprochene Wort zu kümmern. Ja er zwang sich eine Zeit-
lang sogar noch zmn vorgeschriebenen täglichen Brevierbeten,
obgleich er dieses ohne äußeres Aufsehen hätte unterlassen
können. Elr hatte das Brevier immer als eine harte Auflage
empfunden und betrachtete es als eine der stärksten Fesseln,
mit denen die Kirche die Geistlichen an sich bindet, indem
sie sie schwer verpflichtet, Tag für Tag ohne Rücksicht auf
Stimm\mg imd äußere Hindemisse sich in vorgeschriebene
115
Materien zu versenken oder gar unter Festhaltimg einer all-
gemeinen frommen Intention die Zeit durch bloße Mund-
bewegungen auszufüllen. Um sich nun sagen zu können,
daß er das Loskommen von dieser Fessel nicht ohne weiteres
als Lohn seiner Umwandlung in Empfang nehme und daß
dies in keiner Weise imter den Motiven mitspiele, trug
er sie freiwillig noch geraume Zeit weiter.
Was ihn veranlaßte, so lange mit der förmlichen Austritts-
erklärimg zu warten, waren hauptsächlich zwei Gründe: die
Rücksicht auf seine Mutter imd die auf s^ine geisthche
Mutter, die Kirche. Wie furchtbar der Schritt auf seine
Mutter wirken mußte, braucht nicht gesagt zu werden, am
wenigsten denen, die die streng kathohschen Anschauungen
über Apostaten kennen. Dazu kam aber die Bitte befreundeter
kirchlich gesinnter Männer, denen er sich eröffnet hatte, wie
Hanebergs, die das öffentliche Ärgernis, den Schaden für
die Kirche fürchteten, die in dieser Zeit ohnedies dm'ch
den Unfehlbarkeitsstreit und seine Folgen so starke Einbuße
an Ansehen und Mitghedern erlitt. Was es aber Brentano
erleichterte und überhaupt ermöglichte, in dieser Lage aus-
zuharren und sich auch mit den kirchlichen Gebräuchen
einigermaßen abzufinden, das war das Gemeinsame, das
doch geblieben war. Er blieb bis zum Lebensende tief
religiös und ganz erfüllt von Gottvertrauen. Aber auch
dem Christentima und speziell der katholischen Kirche be-
wahrte er ständig hohe Achtung im Hinblick auf die Ver-
dienste, die sich ihre Listitutionen und Lehren trotz aller
Mißbräuche und alles Aberglaubens um die Erziehung des
Charakters erworben haben. Er ist darum auch später nie-
mals aggressiv oder gar höhnend gegen sie aufgetreten, und
die kirchlichen Behörden ihrerseits vermieden es schon aus
Politik, ihn durch feierliche Exkommunikation oder sonstige
Maßregeln zum Kampfe zu rufen, den er sonst zweifellos
ohne Furcht und mit aller Kraft aufgenommen liätte. Denn
nichts lag ihm ferner als Menschenfurcht.
116
Mit dieser gemeinsamen Üborzeugiing hängt auch das
anßerordontliclie Gewicht zusammen, das Brentano der
Ausarbeitung des philosophisohcn Gottesbegriffes und dem
Nachweise seiner Realität bis zuletzt beilegte, während
mir angesichts der ungeheuren Verschiedenheit der Gottes-
anschauungen, innerhalb deren doch die Menschen gut und
sogar fromm sein können, die Einigung über diese letzten
Fragen des Erkennens später nicht bloß immer schwerer,
sondern auch nicht mehr im gleichen Maße notwendig er-
scheinen wollte. Damit will icli nicht sagen, daß nicht eine
möglichst scharfe Durchbildung der Begriffe bis zur aller-
äußersten erreichbaren Grenze vom wissenschaftlichen Stand-
punkt als holies Ziel erscheinen müßte. Wie weit sein un-
ermüdliches Nachdenken in dieser Richtung gekommen ist,
werden ims die hinterlassenen metaphysischen Abhandlungen
lehren.
Die Vorstellungen Brentanos von dem hohen Berufe der
Philosophie für die Erziehung der Menschheit wurden durch
das Aufgeben des positiven Glaubens noch gesteigert. Wenn
nicht geradezu eine neue Religion, so doch eine Erneue-
rung des religiösen Bewußtseins ohne statutarische und
konfessionelle Beimischung erhoffte er, wie seinerzeit Cicero,
von der Entwicldung der Philosophie, von dem Eindringen
ihrer Erkenntnisse in das Bewußtsein der Gebildeten und,
durch sie vermittelt, in das Bewußtsein der großen Masse.
Wir waren beide noch jahrelang überzeugt, daß dem Philo-
sophen, dessen ganzes Denken, Fühlen und Wollen von
dieser Aufgabe erfüllt sei, sogar der Gedanke an Ver-
heiratuiig fern bleiben müsse. Brentano war der erste, der
auch mit diesem selbstgemachten Dogma, zunächst theo-
retisch, brach. Ich erinnere mich, daß er auf einem Ausflug
in die Bergstraße 1874 oder 1875 bekannte, darin wankend
geworden zu sein, kann aber diesmal nicht sagen, daß es
mir Schmerz bereitet hätte, ihm zuzustimmen.
Aus dem Schiffbruche seines Glaubens rettete sich
^ 117
Brentano in das innere Leben auch jene Gewohnheit der
Betrachtung, von der wir ihn sagen liörten, daß er ohne
sie lieber sterben m()chte. Nur waren es nicht mehr die
spezifiscli christlichen Ideen und Begebenheiten, sondern
das weite Gebiet religiöser, großer und edler Gedanken und
Taten in der Menschheit überhaupt, auf das sie sich er-
streckte. Dabei legte er gleichwohl gern die ihm vertrauten
Schriften eines Thomas von Kempen (der auch ein Liebling
Paulsens und seine letzte Lektüre war), eines Pascal und
Fenelon, auch selbst Lebensbeschreibungen von Heiligen,
wie des Yinzenz von Paul, zugrunde und empfahl auch mir
angelegentlicli die Fortsetzung dieser Übungen. „An Fenelons
einfach schönen Betrachtungen erquicke ich mich täglich.
Heute haben mir seine Erwägungen ,De l'emploi du temps'
wieder recht meinen Leichtsinn klargemacht" (8. 11. 1871).
Mir waren Augustins Cohfessiones und Soliloe|uia, Epiktet
und Piaton liebe Weggefährten ; doch wurden die Stunden
der Betrachtung bald durcli die allgemeine Geistesverfassung
abgelöst, in der jeder im ernsten Sinne Philosophierende
zu jeder Stunde des Tages sich finden muß. Und ähnlich
wird es auch wohl ihm ergangen sein.
Schwierig erschien Brentano die Frage, ob auch Marty,
der Ostern 1870 nach seiner Heimat Schwyz zurückgekelirt
war, um dort gleichfalls, wie es seinen, seiner Familie und
seines Bischofs Wünschen entsprach, in den Priesterstand
zu treten, in die Wandlung seiner Anschauungen eingeweiht
werden sollte. Wii' liaben oft darüber gesprochen, und mir
erschien es als das Kichtige, alles zu sagen; aber Brentano
trug Bedenken, da es bei Marty nicht so unauffällig wie
bei mir bleiben konnte und seine Zukunft ganz in Frage
gestellt wurde (er war bereits Lyzealprofessor in Schwyz
geworden), überdies die Möglichkeit bestand, daß es nicht
gelingen wih-de, den Entfernten brieflicli zu den neuen
Überzeugungen herüberzuziehen, und nur furclitbare Ge-
wissensnöte entständen. Dies waren wenigstens nach meiner
118
Erinnerung mitwirkende Erwägungen. Erst 1873 sah sich
Marty — ich weiß nicht genau, ob mit oder ohne An-
deutungen von Seiten Brentanos, jedenfalls aber, nachdem
er von dessen Wandlung erfahren — selbst zu Zweifeln
und zum Aufgeben seines religiösen Standpunktes geführt,
kam einige Zeit nach Aschaffenburg, wo ihn aber Brentanos
Mutter nicht sehen durfte, machte in Göttingen 1875 die
Doktorprüfung und wurde in demselben Jahre nach Czemo-
witz berufen. Die Zurückhaltung Brentanos gegenüber Marty
ist mir auch heute noch nicht ganz verständlich, und sicherlich
würde er, hätte er vorausgesehen, was Marty ihm selbst iind
unserer Wissenschaft später werden würde, nicht gezögert
haben, ihm die gewaltige Erschwerung seines ganzen Lebens
durch den Eintritt in den Priesterstand zu ersparen. Wie
schwer Marty darunter gelitten, wie heldenhaft er die damit
verbundenen Entsagungen und äußeren Hemmnisse getragen
hat, das wissen seine Freunde. Er selbst hat wohl das
Gewicht der praktischen Überlegungen Brentanos anerkannt,
jedenfalls ihm niemals Vorwürfe gemacht.
4. Erlebnisse in Würzburg Herbst 1870
bis Sommer 1873.
Verfolgen wir nun Brentanos Würzburger Leben 1870
bis 73. Ich kann darüber nicht mehr als Augen- und Ohren«-
zeuge berichten, da ich in diesen Jahren in Göttingen
dozierte. Aber ein lebhafter Briefwechsel und häufiges
Wiedersehen in den Ferien erhielten die Verbindung auf-
recht. Es sei zunächst, um seine Stellung und deren
SchA\ierigkeiten verständlicher zu machen, einiges über die
Zusammensetzung des Würzburger Lehr- und Lernkörpers
jener Zeit eingeschaltet, wie ich ihn auch selbst von 1878
an als Würzburger Professor kennen lernte.
Würzburg wurde besonders besucht von Medizinern untl
katholischen Theologen. In den philosophischen Vorlesungen
bildeten die letzteren einen starken Bestandteil, da man
_^_________ 119
seitens der katholischen Theologie auch auf philosophische
Vorbildung immer großen Wert legte, freüich nur, wenn
sie nicht mit der Kirchenlehre in Widerspruch stand. Es
kam aber auch die schon erwähnte staatliche Vorschrift all-
gemeiner Studien im ersten Uni versitäts jähre dem Besuche
zugute. Mediziner pflegten allerdings auch damals nur
selten Philosophie im engeren Sinne zu hören, sondern
zogen Naturwissenschaften vor. Aber Brentano verstand es
doch, damals wie später, auch Medizinstudierende gelegentlich
heranzulocken, und betrachtete es als besonders wünschens-
werten Erfolg, sie für seine Überzeugungen zu gewinnen.
Unter den Lehrkräften fand er ein freundliches Interesse
bei dem Physiologen Fick, einem liebenswürdigen Charakter
und philosophischen Kopf, der zwar vor allem Schopenhauer
und Kant verehrte, aber für jede mensclilich und Wissenschaft- »
lieh bedeutende Erscheinung Teilnahme hatte. Ahnliches gilt
von dem Chemiker Wislicenus, dem wundervollen, religiös und
doch frei denkenden Menschen, meinem späteren Dutzf reunde,
der aber erst seit 1872 in Würzburg wirkte. Auch der Germanist
Lexer, der Jurist Risch, der das Verwaltungswesen der
Universität unter sich hatte, und der Mathematiker Prym
stellten sich objektiv und wohlwollend zu Brentano. Kölliker,
der die medizinische Fakultät beherrschte, aber auch im
Senat und im Ministerium besonders maßgebend war, dürfte
sich wesentlich zuwartend verhalten haben; er war eine külil
abwägende Natur und olme inneres Verhältnis zur Philosophie.
In der theologischen Fakultät hatte Brentano einen warmen
Freund in dem ehrwürdigen, milden Exegeten Schegg, der
auch später nach seinem öffentlichen Abfall ihm seine
Achtung und sein Vertrauen nicht entzog. Der stattliche
Apologet Hettinger, päpstlicher Prälat, der auch etwas von
einem weltgewandten Abbe hatte, hätte wohl gern vermittelt.
Er wußte die Schwierigkeiten der Dogmen zu w^ürdigen,
wenn er sich auch seinerseits mit mehr Eleganz und litera-
rischem Aufputz als Gründlichkeit darüber hinweghalf. Aber
120 .
natürlich konnte das p^te Werk nicht gelingen. Im übrigen
war die theologische Fakultät, zu der auch der nachmalige
Kardinal und Leiter der Vatikanischen Bibliothek, der
hagere, grundgelohrte Herg(mröther gehörte, wesentlich durch
die römisch-jesuitische lüchtung beeinflußt. Als Freunde
Brentanos erwähne ich noch den Geschichtsprofessor Ludwig,
den Hibliotheksvorstand Ruland, einen charaktervollen, wenn
auch klerikal gesinnten Mann, und ganz besonders den
Staatsrechtslehrer Edel, den bekannten Parlamentarier, der
Jahrzehnte hindurch den grüßten l-^infhiß auf das inner-
politische Leben Bayerns hatte. Ihm stand l^>rentano persön-
lich nahe, w^as wohl auf Ascliaffenburger BezieJuingen
zurückging. Einer Tochter Edels, I'rau Hauser, und ihrer
ganzen Familie ist er zeitlebens ein treuer und fürsorgender
Freund geblieben.
Die Mehrzahl der Würzburger J'rofessoren stand aljer
Brentano sicherlich entw^eder feindselig oder mißtrauisch
gegenüber. In ausgeprägt katholischen Städten Deutsclilands
gibt es in der Regel eine protestantische und eine radikale
antireligiöse Partei, die beide durch den Gegensatz gegen
die herrschende Majorität zu kräftiger Betätigung angespornt
sind. Diese Parteien hetrachteten P)rentano zunäclist als
Scholastiker, der zu bekämpfen war. Als ich bei deni Botaniker
Schenk 1867 ein Stipendienexamen ablegte, warnte er mich in
wohlwollender Weise vor Brentano, dem Scholastiker. Später,
als Brentanos veränderte Anschauungen ruchbar wurden,
blieb doch ein mehr oder minder starkes Mißtrauen gegen
ihn in diesen liberalen Kreisen wach, und da er nur mit
wenigen verkehrte und sich noch wenigeren eröffnete, so
konnte es auch nicht anders sein. Hoffmann, der sehr anti-
idtramontan war („Blitzstrahlen wider den Vatikan"), hielt
ihn eben doch für eine Art von verkapptem Jesuiten.
Der Würzburger Bischof Stahl war kein Fanatikei- und
verhielt sich meines Wissens durchaus zurückhaltend. In
Aschaffenburg fand Brentano freundschaftliche Teilnahme,
^ 121
wenn aucli nicht Zustimmiuig, bei dem Seminarpräfekten
Hessler und dem Religionslehrer Schlör, der später Bischof
in Würzburg wurde; während der treffliche Kaplan Hulm,
eine durchaus praktische Natur, später Stadtpfarrer in München,
nicht einsehen wollte, wie man seinen Verstand so quälen
könne, da docli die segensreiche Wirksamkeit der Kirche,
ihr alle Stürme überdauernder Bestand und so viele in die
Augen fallende Tatsachen ihre Göttlichkeit bezeugten.
Man empfand nun an der Würzburger Universität an-
gesichts der großen Lehrerfolge Brentanos um so mehr, daß
Hoff mann, dessen Wirksamkeit fast oder ganz auf Null herab-
sank, als einziger angestellter Vertreter der Philosophie nicht
mehi- genüge, und beschäftigte sich mit Vorschlägen. Lotze,
nach ihm Überweg imd F. A. Lange wurden als Ordinarii
»in Aussicht genommen, über Brentanos Ernennung zum Extra-
ordinarius wurde lebhaft verhandelt, i Lotze selbst empfahl
warm seine Anstellung. Aber zum Ordinarius der Philosophie
wollte man doch einen Geistlichen nicht vorschlagen. Bren^
tano denkt in den Briefen bereits Ende des Winters 1870/71
' Ich entnehme diese und di(^ folgenden Angaben über die Be-
setzungsfrage Brentanos Briefen. Sie sind aber durch eine Vergleichung
mit den Fakultäts- und Senatsakten, die Herr Professor Chroust auf
meine Bitte freundlichst vornalim, bestätigt. Die Interna dieser Ver-
handlungen scheinen merkwürdig genug, sollen aber hier unberührt
bleiben. Denn derartiges findet sich auch sonst in Universitätsakten
nicht so ganz selten. Nur eine Äußerung der Fakultät sei erwähnt,
die ein seltsames Gegenstück zu dem oben mitgeteilten begeisterten
Lobe Brentanos bildet. Die Fakultät erklärt am 20. Dezember 1870,
mit 6 Stimmen unter 11, Brentanos Gesucii um Anstellung als Extra-
ordinarius nicht befürworten zu können, „weil er weder einen Ruf er-
halten noch hervorragende wissenschaftliche oder praktische Leistungen
aufzuweisen habe". Fünf Fakultätsmitglieder reichten aber Separatvota
zu seinen Gunsten ein. Die Senatsmehrheit stellte sich auf den Stand-
punkt eines dieser Vota, hatte zwar wegen des geistlichen Standes
bedenken, betonte aber seine „von mehreren Seiten bezeugte un-
abhängige, den ultramontanen Tendenzen abgeneigte Gesinnung".
Sie wolle seine Ernennung befürworten, wenn erst ein neuer Ordi-
narius berufen sei.
122
daran, WürzLur^ zu vorlassen, wenn man ihm nicht eine
Professur vorleihe. Um Ostern sah er Döllinger, der ihm
mehr, als er erwartet hatte, gefiel und traf bei ihm auch
Lord Act(m. „V<m den gleichzeitig anwesenden Antünfallibi-
listen blieb ich fern. Natürlich wissen Sie, wie unendlich
weit ich vom Jnfallibilismus bin. Aber auf diese Männer
habe ich kein Vertrauen. Und ebenso ärgert mich der Staats-
despotismus, der dem kirchlichen nicht nachsteht." Man
benützt aber gerade seine Zurückhaltung gegenüber der
Antünfallibilitätsadresse an Döllinger, ihn des Unfehlbarkeits-
glaubens zu verdächtigen. Er findet freilich, selbst wenn
der Verdacht richtig wäre, könne das kein Hindernis seiner
Anstellung sein. „Wenn ich an den Dalai Lama glaubte,
hätten sie nichts dagegen" (23. 6. 71).
Aus einem Brief vom 14. Juli 1871 geht hervor, daß-
wir eine gemeinschaftliche Schweizerreise für die Sommer-
ferien vorhatten, wobei Marty besucht werden sollte, der
zu Ostern eine schwere Krankheit durchgemacht hatte. Sie
ist aber unterblieben. Im November 1871 treibt Brentano
Englisch und freut sich, Ostern nach England zu gehen,
namentlich um Mill kennen zu lernen. Die Verbergung seiner
ITberzeugungen fällt ihm immer schwerer. „Fenelon ist fort
und fort mein treuer Freund. Ich könnte zufrieden sein,
wenn nicht von Zeit zu Zeit mächtige Sehnsucht nach dem
Bekenntnis der Wahrheit mir das Herz schwer machte"
(f). 1. 72).
Er bittet um Urlaub für den Sommer zu einer Reise
nach England. Man interpelliert die Regierung, da die
Universität dadurch in die größte Verlegenheit gebracht
werde, zumal da auch Hoffmann erklärt hatte, er werde
gesundheitshalber nicht lesen. Der Senat ist einstimmig für
seine Anstellung. Aber ein freundlicher Kollege ruft in aller
Eile eine Gegenkraft herbei, indem er einen Dr. L. . . ., von
dem die l^hilosophiegescliichte bis heute gänzbch schweigt,
veranla(3t, sich schnellstens für Philosophie zu habilitieren.
^_^^^^^^_^_^___^ . 123
Brentano berichtet mir am 25. Februar 1872 ausführlich,
über seine Beteiligung an der Disputation; und da der
Bericht ein anschauliches Bild von seiner außerordentlichen
Überlegenheit in dialogischen "Waffengängen gibt, möge er
wörtlich hier stehen. Das lebhafte Gefülil des Triumphes
wird man dem Sieger zugute halten. Die Wirkung war, daß
das beklagenswerte Werkzeug der Intrigue abgewiesen wurde.
„In aller Geschwindigkeit, mit Umgehvmg aller Ante-
zedentien, wurde auf gestern seine Habilitation angekündigt.
Mir machte er keinen Besuch, ja er schickte mir nicht
einmal seine Thesen. In Folge dessen dachte ich zuerst
gar nicht hineinzugehen. Doch besann ich mich anders.
Das Pubükum, das nichts von der vorausgegangenen
UnhöfKchkeit wußte, hätte mein Ausbleiben als Feind-
seligkeit deuten können. Ich entschloß mich zu opponieren.
Zwei Thesen griff ich an, eine über die Aufgabe der Logik,
die andere über die Anwendbarkeit der Mathematik auf
die Psychologie, die der Habilitand in jeder AVeise und
für alle Zukunft zu negieren suchte. Obwohl ich — wie
ich auch später von allen Seiten anerkennen hörte — in
keiner Weise leidenschaftlich oder mißgünstig mich zeigte,
Avar das Ergebnis seine vollständigste Niederlage und icli
feierte einen glänzenderen Triumph, als ich ahnen oder
wünschen konnte. Die gesamte Studentenschaft, die ziem-
lich zahlreich erschienen war, kam während der Disputation
allmälig in Bewegung und brach bald in geräuschvollen
Applaus bald in Lachen aus. Ja noch mehr. Die Professoren
und Dozenten selbst (und auch von ihnen waren namentlich
von Vertretern der Naturwissenschaften aus der philo-
sophischen und medizinischen Fakultät eine ziemliche
Anzahl zugegen) vergaßen soweit des Anstands, daß sie
die deutlichsten Zeichen des Beifalls gaben. Der etwas
lebhafte Fick rief dem Physiker Kundt über die Bank
zu: „famos" mit so wenig gedämpfter Stimme, daß es
selbst die Studenten im Hintergrunde der Aula hörten
124 •
und (lieser erwiderte mit elxmso lebliaften Zeichen. Ahnlich
HoJrat A\'agner. Die niedizinisclien Privatdozenten schauten
anfangs ganz verduzt drein. Halte man doch genugsam
auszustreuen gesnclit, daß icli ein Mystiker, daß ich ein
Schohistikor, daß icli ein einseitiger Aristoteliker und
Äimliclies sei, und die beiden Thesen waren von der
Art, daß sie mir Gelegenlieit boten, ihr Vorurteil so recht
in der Wurzel zu zerstören. Es war als wenn alle, die
sonst mich als einen Gegner anfeindeten, plötzlich in sehr
wesentlichen Beziehungen in mir einen Bundesgenossen
erkannten und mit der unverhohlensten Freude an meinem
Siege sich weideten. Hoff mann selbst, der mitten unter
den Beifallbezeugenden saß, fing an beifälhg zu nicken
und zu lächeln Nach beendetem Akt kam Fick zu
mir, machte mir die sehn] eichelhaftesten Komplimente,
während der arme Habilitand von den seinigen verlassen
wie ein armer Sünder auf dem Katheder stand und so
den Kopf verloren hatte, daß er sich nicht von der Stelle
rührte. Ich hatte Mitleid mit ihm, und wäre ich nicht
durcli Fick okkupiert imd so gehindert worden, so wäre
ich trotz seiner vorausgegangenen Unfreundlichkeit zu
ihm gegangen, um ein paar freundliche AVorte mit ihm
zu sprechen. Hoffmann hatte in seiner Beurteilung der
A'on ihm eingereichten Abhandlung ihm überschwengliches
Lob gespendet. Aber nach dem Eindruck, den der öffent-
liche Habilitationsakt gemacht hat, ist es nach dem, was
ich höre, wahrscheinlich, daß er dennoch abgewiesen
werden wird."
Als ich einige Wochen später in den Osterferien nach
AV'^ürzburg kam, war noch alles voll von dem Eindruck dieser
Disputation. Brentano hatte sich wirklich damit die hohe
Anerkennung selbst seiner Feinde errungen. Aber für einen
ganz schwarzen Ultramontanen hielten sie ihn nach wie vor.
Brentano setzte nun in dei- Tat seine Vorlesungen im
Sommer 1872 aus. Er reiste um Ostern nach London. Während
^ Ud
seiner Abwesenheit, am 13. Mai 1872, erfolgte seine Er-
nennunof zum außerordentlichen Professor.
Die Briefe von London reichen vom 22, xVpril bis 5. .Juni.
Er vervollständigt zunächst seine Kenntnis der Sprache
und der philosophischen Literatur Englands. Er verkehrt
auch mit antiinfalliblen Kathohken. Empfehlungen durch
meinen Göttinger Freund William Robertson Smith, den
später so berühmt gewordenen freien Theologen, der auch
in Mathematik und Philosophie fachmännisch zu Hause war,
führen zu weiteren Bekanntschaften. Auch Newman, den
geistvollen Führer der englisclien Katholiken, will er auf-
suchen; ob es geschehen ist, geht aus den Briefen nicht
hervor. Herbert Spencer liat er angetroffen vmd später mit
ihm Briefe gewechselt. Bekannt wurde er noch mit Mivart'
dem bedeutenden Antidarwinisten, mit dem er sich in einem
der Haupteinwände (daß die ersten Anfänge eines Organs
noch keinen Nützlichkeitswert haben können) begegnete.
Dieser erzählte ihm Darwins Äußerung, daß sein Buch ihm
schlaflose Nächte bereitet habe und daß er selbst seine
Hypothese in ihrer Ausschließlichkeit für ungenügend halte
(ähnhches findet man auch in den Schriften und Briefen des
geradezu vorbildHch ehrlichen großen Forschers). Anderes
verspart er sich für eine zweite englische Reise.
Er denkt jetzt an die Möglichkeit, daß ich nach Würz-
burg berufen würde und wir da zusammenwirkten. Dilthey
war im Sommer berufen worden, hatte aber abgelehnt. Mit
dem inzwischen ausgebrochenen Kulturkampf und der Aus-
treibung der Jesuiten ist Brentano trotz seines Gegensatzes
zu diesen nicht einverstanden.
Mitte Juni 1872 reiste er nach Aschaffenburg zurück,
wobei er in Göttingen kurzen Aufenthalt machte imd Lotze
und Baumann besuchte. Wir waren in beiden Häusern zu-
sammen eingeladen Lotze war freundlich, aber schweigsam,
wie so oft. In Aschaffenburg hört Brentano Pmde Juni, daß
dort wie in Würzburg und München von seiner ablehnenden
126
Stellung jiiclit nur zum Ultramontanismus, sondern auch zu
Kirche und ( 'liristentum gemunkelt werde. Der Minister
liat zu einem Bekannten ü^oiiußort, Brentano sei voll Haß
gegen Paj)st, Kirche und Christentum. Er sieht nun ein,
daß auf die Dauer seines Bleibens niclit in Würzburg sein
könne, und beginnt dort für meine ]5erufung zu wirken.
Ich hatte Ende April 1872 die Arbeit über den psycho-
logischen Ursprung der Raumvorstellung angefangen und
war damit bei der äußersten Konzentration, die mir damals
vergönnt war, so schnell vorwärts gekommen, daß ich im
August schon mitten im Drucke stand. Aber während der
erste Teil gedruckt wurde, wurde der zweite noch geschrieben
und vieles mit Brentano wälirend seines Asch äff enburi^er
Ferienaufenthaltes im September durchgesprochen. Anfang
November war das Ganze fertig.
Brentanos innerlicher Al)fall ist jetzt in engeren Kreisen
allmählich doch bekannt. Der theologische Privatdozent Stahl,
ein Neffe des Bischofs, hält philosophisclie Vorlesungen imd
agitiert gegen Brentano, den ei' als Atheisten hinstellt, ob-
gleich der Bischof selbst nichts gegen ihn tut und auch
den Theologen seine Vorlesungen nicht gesperrt hat. Hettinger
und dem Mainzer Heinrich hat er seine Gründe vorgelegt, '
ohne daß sie sie zu widerlegen wußten. Andererseits trauen
ihm aber die Liberalen auch nicht.
Das Ministerium verlangt neue Vorschläge für das
Ordinariat. Man ist in Wien, wo gleichfalls eine Besetzung
notwendig wurde, auf Brentano aufmerksam gemacht, und
es sind bereits private Verhandlungen im Gange. „Nach
wie vor wünsche ich mich weit von Würzburg weg, und
nur Ihr Hierherkommen könnte es mir, der ich mich jetzt
mehr noch als früher innerhalb meiner vier Wände einspinne,
etwas erträghcher machen" (19. 11. 72). Nachschrift: „Meine
Sozietät zählt 13 Studenten, darunter Philosophen, Juristen,
Mediziner und Theologen." 30. November 1872: „Augen-
blicklich ist es auch ganz erträglich hier, doch schweben
127
immer die Gewitterwolken über meinem Haupte. Dann
wissen Sie selbst, wie viele Ultramontane in dem Wahne
leben, ich habe einen ultramontanen Posten usurpiert, und
endhch würde die Berufung nach Gießen [wovon ebenfalls
die Rede war] ein Schritt weiter zur Emanzipation und
vielleicht auch die Anbahnung einer anderen Berufung sein.
Solange ich hier lebe und, wie ich es hier nicht anders darf,
mit meinen Ansichten nicht laut hervortrete, wird man mich
anderwärts, wenn nicht für einen Ultramontanen, doch immer
noch für einen Schwarzen halten."
Um Weihnachten hatte Sigwart einen Ruf nach Würz-
burg erhalten, aber abgelehnt. Später wurde noch Lassen
aus Berlin vorgeschlagen, aber vom Ministerium abgelehnt.
In der KJreuzzeitung erschien ein pietistischer Klageruf über
Brentano, auch ultramontane Zeitungen (Yolksfreund, Bonner
Reichszeitung) polemisierten gegen seinen „Deismus".
Wir korrespondieren inzwischen über Raumfragen, über
die Beobachtungen an Schielenden, die Nageische Theorie,
die Kraft der Phantasie gegenüber der Raumvorstellung.
Brentano teilt mit, daß er iinverkennbar binokulare Farben-
mischung gesehen, beschreibt das Einzelne, denkt an eine
Art psychischer Chemie. Er kommt in mehreren Briefen
darauf zurück. So früh also beginnen auch schon seine
Farbenstudien und Experimente. Ende Januar kommt mein
Buch heraus.
Er erwägt, Ostern niederzulegen und förmlich mit der
Kärche zu brechen. Aber manches spreche dagegen ; so könne
das Gerücht, daß er irrsinnig geworden, dadurch Nahrang
erhalten. Am 6. Februar 1873 hat er aber den Entschluß
definitiv gefaßt und teilt ihn bereits Lotze mit. In Gießen
wie in Wien sind wir gewissermaßen Konkurrenten, aber
der Leser kann sich denken, in welchem Sinne wir selbst
dies auffassen und behandeln. Im Februar bespricht Bren-
tano im Münchener Ministerium die Sachlage, teilt seinen
Entschluß mit, von dem man ilin mit Hoffnungen auf ein
128 _==_==___=
Ordinariat ab/ubringen versucht, weist auf mich hin. Das
Ministerium vorlangt Gutachten vom Senat, der im Laufe
des Sommers meine ]>erufung, für die namenthcli Lotze
sich warm eingesetzt hatte, befürwortet.
Anfang März 1873 erbat Brentano die Entliebung von
seiner Stolhing. Nach dem Senatsbericht vom 17. März er-
gciben mehrere Unterredungen mit ihm die Unwiderruflich-
keit „seines schon lange gehegten Entschlusses, welchen
näher zu motivieren derselbe absichtlich unterlassen hat".
Der zwingende Grund lag für ihn zweifellos darin, daß
er kurz darauf seinen Austritt aus der Kirche zu erklären
gedachte und daß danach unter den in Würzburg gegebenen
Verhältnissen seines Bleibens an dieser Stelle, wo er als
Stolz und Hoffnung kirchhch gesinnter Kreise eingezogen
war, nicht mehr sein konnte. Obgleich er die Professur
keineswegs diesen Kreisen verdankte, wollte er jeden Vor-
vvand zu noch so ungerechtfertigten Vorhaltungen in dieser
Hinsicht abschneiden. Vor allem aber lag ihm daran, sein
wissenschaftliches Lebensziel in positiver Arbeit weiter zu ver-
folgen und sich nicht in einen beständigen Kampf mit der kirch-
lichen Richtung verwickelt zu sehen, der nach allen Voraus-
setzungen in Würzburg nicht zu vermeiden gewesen wäre;
Daß man ihm einen Ordinarius zur Seite setzen wollte,
hat nicht, jedenfalls nicht maßgebend, mitgewirkt. Denn
abgesehen davon, daß ihm selbst Hoffnungen auf das
Ordinariat bei dieser Gelegenheit gemacht wurden, hätte bei
seiner Lehrbegabung der Ordinarius, wer er auch sein mochte,
eher für seine Wirksamkeit zu fürchten gehabt als Brentano.
Ebensowenig spielte gekränktes Selbstbewußtsein eine Rolle,
denn er wäre es ja sogar zufrieden gewesen, als Extra-
ordinarius seinem Schüler als Ordinarius nachgestellt zu
werden, wenn es nur der Sache diente.
Am 24. März erfolgte die Enthebimg „unter wohl-
gefälliger Anerkennung seiner ausgezeiclmeten Leistungen
auf dem Gebiete der Wissenschaft wie als Lehrer".
129
Am Karfreitag, dem 11. April 1873, trat Brentano aus
der Kirche aus. Über die näheren Umstände dieses ent-
scheidenden Schrittes bin ich nicht unterrichtet. Er scheint
in aller Stille, nur vor dem Bischof, erfolgt und der Öffentlich-
keit zunächst nicht bekannt geworden zu sein. Das Datum
ist mir auch nur indirekt, durch Prof. Kraus nach Brentanos
mündlicher Mitteilung, bekannt.
Der nächste Brief datiert vom 9. Mai aus Paris. Teils
der Wunsch, nach der großen "Wendung seines Schicksals
zunächst in der Heimat unsichtbar zu bleiben, teils aber
auch das noch lebhafter gewordene Bedürfnis, die geistigen
Strömungen im Auslände kennen zu lernen, und mit be-
deutenden Denkern der Zeit in Verbindung zu treten, werden
diese Reise veranlaßt haben. An Mill hatte er am 29. No-
vember 1872 einen langen Brief über die ürteilstheorie ge-
schrieben, auf den Mill am 6. Februar 1873 antwortete (eine
Stelle aus der Antwort teilt Brentano, Ps^^chologie S. 288,
mit). Mill lud ihn ein, im Frühsommer mit ihm in Avignon
zusammenzutreffen, wohin Brentano von Paris aus reisen
wollte. Leider wurde diese Zusammenkunft durch Mills Tod
vereitelt. Aus Paris schreibt Brentano zunächst fast nur
Günstiges. Das Familienleben, die Redlichkeit des Publikums,
die freie und doch tolerante Stellung gegen den Glauben
werden gelobt. Von den Sammlungen für Kunst und Wissen-
schaft ist er entzückt. Am 9. Juni aber schreibt er, er habe
nun Paris ziemlich von allen Seiten kennen gelernt und
müsse sein erstes günstiges Urteil um* ein Bedeutendes herab-
stiramen. Der Ort zum ruhigen Studium sei es jedenfalls
nicht; auch sei die Bibliotheksbenutziing erschwert. Er weiß
noch nicht, wohin er für die nächste Zeit gehen soll, Aschaffen-
burg sei für ihn kein geeigneter Aufenthalt. „Was macht
der neue altkatholische Bischof? Wird er bald gewählt und
wo will er seinen Sitz aufschlagen? Von Gottes und Bis-
marcks Gnaden ist ein geradezu kontradiktorischer Titel,
und doch dem letzten Teile nach jedenfalls hier am Orte."
Kr all 9, Franz Brentano. 9
130
Am 2M. Juni ist er in Roodt, Luxemburg. Aus Paris
hat ihn auch die Hitze vertrieben. Er sehnt sich, in Lei{)zig
oder einem ähnbchen Orte zu arbeiten. Von Marty hat er
Nachriclit, wonach dieser in seinen religiösen Ajisichten
bereits wankend geworden. 8. Juli beglückwünscht er mich
aus Aschaffenburg zu der Würzburger Berufung und hat
seinerseits gute Nachricliten über Wien. Lotze war dort
nachdrücklich für seine Berufung eingetreten. Der Kardinal
Rauscher protestierte (später soll er den Protest zurück-
genommen haben), andererseits hatte Brentano eine persön-
liche Stütze an dem befreundeten v. Gagern, der die Be-
denken des Kaisers beschwichtigte. Im Juli 1873 war Bren-
tano selbst in AVien. Die Fakultät hatte an erster Stelle
Lange, an zweiter Stumpf genannt; der Minister drückte
gegen Zimmermann sein Befremden aus, daß Brentano
übergangen sei. November 1873 brachte er einige Zeit
in Leipzig zu, wo er Rechner, Drobisch, E. H. Weber
und den jungen Philosophen Schuster besuchte, wohl
auch Strümpell und Windelband kennen lernte; aber die
Bibliotheksverhältnisse enttäuschten ihn sehr, die enghsche
Literatur fehle ganz, die deutsche sei äußerst lückenhaft
vertreten. Wegen der Abfassung seiner Psychologie ist ilim
dies schmerzlich. Er ließ sich dann durch mich aus Würz-
burg Bücher nach Aschaffenburg senden. Er freut sich auf
mein Kommen zu Weihnachten. „Denn der Mangel jeder
wissenschaftlichen Ansprache und jedes Gedankenaustausches
über das, was uns beschäftigt, ist für meine Natirr nicht
bloß fühlbar, sondern auch ein wahres Hindernis." Ebenso
in einem anderen Briefe: „Der Mangel an ansprechendem
Umgang ist bei einer zur Freundschaft geneigten Natur
wie der meinigon immer fühlbar. Jetzt, wo so manche
wissenschaftliche Frage Stoff zur Besprechung gäbe, noch
mehr." Er beschäftigt sich mit der Frage angeborener Assozia-
tionen, zweifelt am psychophysischen Gesetz aus den in
seinem Buche angegebenen Gründen.
131
Am 22. Januar 1874 wurde Brentano zum Ordinarius
der Philosopliie in Wien ernannt. Der Sektionschef teilte es
ihm in einem schmeichelhaften Schreiben mit.
Die Vorrede zu seinem Buche datiert vom 7. März 1874.
Während des Druckes hatte ich mit ihm viele Besprechungen
über Formf ragen. Er war darin zu jener Zeit bis zum Übermaß
gewissenhaft. Die Korrektur bereitete ihm daher geradezu
Pein. Die stilistische Fügung, die Wahl eines Ausdruckes
auch in ziemlich gleichgültigen Fällen, die Setzung eines
Komma riefen lange Erwägungen hervor. Doch erstreckte
sich dies nur auf an sich gleichgültige Äußerlichkeiten.
Sonst saß das Kleid der Gedanken bei Brentano immer
„wie angegossen", die Form entsprang im wesentlichen
unmittelbar und ohne Ausprobieren dem Gedanken. Und
ist sie oft etwas umständlich und nicht so elegant oder
bilderreich wie bei manchen philosophischen Stilkünstlern,
so liegt dies durchaus an der Art des Denkens selbst. Wie
ihm da jede Mehrdeutigkeit und Undeutlichkeit unerträglich
war, so galten ihm auch schöne Bildlichkeit, Witz und
Schmuck der Rede, die dem Verfasser des Eätselbüchleins
sonst recht wohl zu Gebote standen, in den schweren Fragen
der Philosophie gar nichts, vielmehr hielt er jeden, der auf
solche Weise durchzukommen suchte, an und zwang ihn,
sich rein sachlich auszudrücken. Und so war auch Selbst-
zucht in dieser Hinsicht ihm zur zweiten Natur geworden.
5. Vorlesungen 1870 bis 1873.
Es sei nun über Brentanos Vorlesungen 1870 bis 1873
berichtet, soweit ich informiert bin, d. i. hauptsächlich aus
Teilen seiner mir im September 1873 (s. u.) mitgeteilten
Vorlesungshefte. Diese Aufzeichnungen, die Brentano in
den Vorlesungen benützte, bestanden nur aus Stichwörtern
oder kurzen Wendungen, waren aber aufs Sorgfältigste
disponiert, und der Gedankengang war durch Nummern,
lateinische und griechische Buchstaben so übersichtlich
9*
132 ^
wiedergegeben, daß der mit Brentanos Ideen im all-
gemeinen Vertraute sich darin zumeist recht gut orientieren
konnte. Die hinterlassenon Hefte werden darum für alle
künftigen Darsteller seiner Lehren ein unschätzbares Hilfs-
mittel sein.
Die Gegenstände der Vorlesungen in dieser Zeit waren:
Winter 1870 Deduktive und induktive Logik (fünfstündig);
Sommer 1871 Psychologie; Winter 1871 Geschichte der
Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart (fünf-
stündig), Sozietät über ausgewählte philosophische Schriften;
Winter 1872 Psychologie, Über das Dasein Gottes (zwei-
stündig), Sozietät. Für den Sommer 1872 war Metaphysik
(fünfstündig), für den Sommer 1873 Deduktive und in-
duktive Logik mit erläuternden Anwendungen auf die
Geschichte der Natur- und Geisteswissenschaften (fünf-
stündig) angekündigt.
In der Logik 1870/71 — dem besuchtesten Kolleg der
Universität, wie er mir schrieb — baute Brentano die Urteils-
lehre noch weiter aus, und hier war es u. a. die Lehre von der
Modalität, die er ganz neu gestaltete. Er unterschied scharf
die Begriffe der Evidenz, Sicherheit, (Tcwißheit und Genauig-
keit, die man alle in dem „apodiktischen" Urteil mehr oder
weniger zusammengeworfen hatte. Die Unterscheidung der
Sicherheit (einschließlich der Wahrscheinlichkeitsgrade) als
einer in der Urteils materie wurzelnden Eigenschaft von
der Gewißheit oder Zuversicht als einer subjektiven, auch
von Gefühlsmotiven abhängigen Eigenschaft des Urteils
war u. a. wichtig für die Theorie des religiösen Glaubens.
Es folgte dann die ausgeführte Theorie des Schließens, ins-
besondere der kategorischen Syllogismen, wie man sie aus
den kurzen Mitteilungen in der Psychologie von 1874 und
aus dem Buche von Hillebrand kennt. Brentano hat sie in
der Aschaffenburger Zurückgezogenheit geschaffen. Es ist
mir noch in Erinnerung, wie er ganz und gar von diesen
logischen Forschungen hingenommen war »und täglich zu
J 133
neuen Folgerungen aus seinen Grundannahmen gelangte.
Er lebte da in seinem allereigensten Element. In der Tat
erscheint mir auch heute noch diese Schlußlehre, die Zurück-
führung aller sog. einfachen kategorischen Schlüsse auf die
zwei existentialen Grundformen, eine für die affirmativen,
eine für die negativen Schlüsse, unter Zugrundelegung des
Satzes, daß man bei affirmativen Urteilen die Materie ohne
Schaden für die Wahrheit beliebig vermindern, bei nega-
tiven beliebig vermehren dürfe, und die Ableitung dreier
Schlußregeln an Stelle der verwickelten, alten Moduslehre
als eine grandiose Leistung. Die Strenge der Ableitungen
und die Einfachheit und ausnahmslose innere Harmonie der
Ergebnisse sind bewunderungswürdig. Für das letzte AVort
in dieser Sache kann ich sie freilich nicht mehr halten, da
mir ihre Grundlagen in der Urteilslehre, namentlich die
Deutung der allgemein bejahenden Aussagen auf negative
oder Negationen enthaltende Urteile, seit lange nicht mehr
richtig scheinen. Modifiziert hat sie später ja auch Brentano
selbst durch die Anerkennung sogenannter Doppelurteile,
die zugleich prädikative Urteile sind, u. a.
Bei der Würdigung der viel umstrittenen Urteilslehre Brentanos,
durch die er am meisten auf die zeitgenössische Philosophie ein-
gewirkt hat, muß man immer beachten, wie ungeheuer viel all-
gemeiner er den Ausdruck „Urteil" gegenüber dem Sprachgebrauche
der meisten faßt. Man braucht nur daran zu denken, daß ihm jede
Wahrnehmung, innere wie äußere, ein Urteil ist, daß ex darin schon
eine elementare Bejahung, Setzung findet, und daß ihm mit jedem
beliebigen psychischen Akte von den ersten Anfängen an eine evi-
dente Selbstbcjahung, also ein Urteil in diesem weitesten Sinne, ver-
bunden scheint. Von dem Standpunkt, der nur sprachlich formulierte
Urteile (Aussagen), und zwar mit Subjekt und Prädikat, kennt, ist
dies alles natürlich himmelweit entfernt.
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat Brentano, immer fort--
schreitend, die Urteilslehre noch durch die These ergänzt und modi-
fiziert, daß zum Gegenstand eines VorsteJlens und Urteilens nur ein
Reales, ein Ding gemacht werden könne, wodurcli auch die oben-
erwähnten „indirekten Urteile" eine Umdeutung erfahren. Über diese
Wendung, die er nur kurz in tler Sciirift: „Von der Klassifikation der
134
psychischen Phänomene" skizzi(^rt, liabcn Marty und die EnkelschüJor
Kraus und Kastü Genaueres berichtet (Kraus s. o. Kastil im Vorwort
zu A. Marty s Gesammelten Schriften II. Bd. 1. Abt. 1918). Wird die
Ausdeutung der Aussagen dadurcli erlieblich komplizierter, so ist
andererseits nicht zu verkennen, daß die ganze ürteilslehre so noch
an straffer Einheitlichkeit gewinnt. Von einer sachlichen Stellung-
nahme muß natürlich hier abgesehen werden.
Ein weiterer folgenreicher Schritt der neuen Logik wai-
die Einfügung der mathematisch-philosophischen Wahrschein-
lichkeitslehre, wobei Brentano die Laplace'sche Definition
zugrunde legte und die sieben ersten Kegeln aus dessen
I -|
Essai T)hilosoi)hi("|ue anführte, für die Formel — -T— « ©ine
n -]- 2
elementare Ableitung gab und die unvollständige Induktion teil-
weise auf (unendliche) Wahrscheinlichkeit zurückführte. Einige
Jahre darauf, 1874, erschienen Stanley Jevons' Principles of
Science, worin die Theorie der Induktion und Kausalgesetzlich-
keit wesentlich auf die mathematischen Wahrscheinlichkeits-
gesetze begründet wurde. Brentano selbst hat leider nichts
darüber veröffentlicht. Die Wurzeln der Theorie liegen für
beide Denker in Laplace' sechstem Prinzip und weiter zurück
in der Bayes'schen Hegel. Meine eigene spätere Arbeit über
den Begriff der mathematischen WahrscheinKchkeit (1892)
w^ar hauptsächlich durch die Frage veranlaßt, ob solche An-
wendungen selbst logisch fehlerfrei sind. Denn wenn die weit-
verbreitete Auffassung richtig wäre, wonach umgekehrt Kausal -
Verhältnisse oder Induktionen die Voraussetzung von Wahr-
scheinlichkeitsansätzen bilden sollen, so würde man sich im
schönsten Kreise di-ehen. Außerdem hatte v. Kries bestimmte
materielle Voraussetzungen (Spielräume) für nötig erachtet.
Daher erschien eine eingehende Untersuchung erforderlich,
ob der mathematische Wahrscheinlichkeitsbegriff an irgend-
welche in Laplace' Definiton nicht genannte Einschränkungen
oder Voraussetzungen gebunden sei. Brentano schickte mir
nach Empfang der Abhandlung eine Anzahl kritischer Be-
merkungen, von denen ich einige auch als berechtigt
135
anerkennen mußte, aber im wesentlichen stimmte er
natürlich zu.
Psychologie tritt zum erstenmal im Sommer 1871 unter
den Vorlesungsgegenständen auf. Brentano teilte sie damals
in zwei Hauptabschnitte: 1. von den psychischen Phänomenen
lind ihren Gesetzen, 2. vom Substrat der psychischen Phäno-
mene und der Unsterblichkeit der Seele. Näheres weiß ich
nur über die Wiederholung der Vorlesung im Winter 1872/73
aus Bruchstücken seiner Hefte, da ich Psychologie niemals
bei ihm gehört habe. Im ersten Abschnitt wurde über die
Dreiteilung der Grundfunktionen und ihr gegenseitiges Ver-
hältnis gesprochen. Eingehend behandelte er die Assoziations-
lehre, wobei die Arbeiten der englischen Psychologen aus-
giebig berücksichtigt wurden. Er erkannte nur ein Grund-
gesetz an, das er etwa so formulierte: „Jede Vorstellung
liinterläßt eine Disposition zum Auftreten einer ähnhchen
Vorstellung unter ähnlichen psychischen Umständen." Aus
dieser Formel, die die neuerdings so genannte Tatsache der
Substitution bereits berücksichtigt, sind zugleich alle Fälle
der sogen. Ahnlichkeitsreproduktion zu verstehen. Ich halte
sie noch heute für die korrekteste und umfassendste. Auch
manche Ergebnisse der späteren experimentellen Gedächtnis-
forschung hat Brentano antizipiert, so das Jost'sche Gesetz
(womit ich natürlich nicht sagen wül, daß die experimentelle
Begründung überflüssig gewesen). Er verglich die Art, wie
sicli ältere, stark begründete Assoziationen gegenüber neueren,
wenn sie beide dem Zeitverlauf überlassen werden, durch-
setzen, mit dem Verhalten zweier Lichtquellen von ver-
schiedener objektiver Lichtstärke, von denen die schwächere
dem Auge näher liegt und darum zunächst subjektiv heller
erscheint: wenn sie sich nun beide mehr und mehr entfernen,
ohne ihren gegenseitigen Abstand zu verändern, so muß ein
Punkt kommen, wo die stärkere subjektiv heller wird. Auch
die abnormen und pathologischen Erscheinungen, wie das
„doppelte Bewußtsein" und die Hypermnesien, wurden
136
besprochen und mit deii) Grundgesetz in Verbindung
gebracht.
Der Frage nach dem Ursprung der Raumvorstellung
widmete Brentano im Januar und Februar 1878 nicht
weniger als 20 Yorlesungsstünden. Sie hat ihn seit unseren
Diskussionen aus Anlaß meines Buches stets in hohem
Maße beschäftigt.
Das Zeitbewußtsein beschrieb Brentano damals so, daß
in jedem Moment einer (äußeren oder inneren) Wahrnehmung
von dem AVahrnehmungsinhalt eine ihm qualitativ gleiche^
aber sich zeitlich bis zu einer gewissen Grenze zurück-
schiebende Vorstellung ausgelöst werde. Das Zeitmerkmal
galt ihm dabei als eine inhaltliche Bestimmtheit, deren
gleichmäßige Veränderung eben dieser, dem Bewußtsein
eigenen Gesetzlichkeit unterliegt. Er nannte den Prozeß
eine „ursprüngliche Assoziation" gegenüber den „erworbenen
Assoziationen" des Gedächtnisses. Folgen mehrere Eindrücke
a, b, c, d aufeinander, so ist beim Eintritte des zweiten der
erste bereits in solcher Weise zeitlich vertieft usf. Bren-
tano versinnlichte dies durch beistehendes Schema, worin
, die Horizontale dem obiektiven Zeit-
verlauf, die Vertikalen an jedem Punkt
die jeweiligen Vorstellungen bedeuten.
Später hat er diese zunächst so ein-
leuchtende Beschreibung des Sachver-
haltes im wörtlichsten Sinne „modifiziert",
indem er die Umwandlung nicht als eine
' inhaltliche, sondern als eine des Vor-
stellungsmodus definierte. Der Grund lag für ihn darin,
daß Vergangenes nicht real ist, Nichtreales aber auch nicht
Vorstellungsinhalt sein kann.
Mit jener ersten Zeittheorie hing auch die logische
Lehre zusammen, daß die zeitlichen Unterschiede in unseren
Aussagen, wie sie in den Zeitformen des Verbums vor-
liegen, nichts mit der Urteilsfunktion zu tun haben (J. St. Mill),
137
sondern nur die Materie des Urteils angehen. Sage ich:
„Gestern wütete ein Sturm", so ist hiernach nicht meine
Bejahung eine andere als beim Praesens, sondern nur das
Bejahte, ähnlich wie wenn das Urteil einmal einen räumlich
entfernten, einmal einen nahen Gegenstand betrifft.
Die Ethik hat Brentano in den Würzburger Vorlesungen
noch nicht behandelt. Aber ich möchte in Hinsicht der Ent-
wicklung seiner Gedanken in dieser Richtung bemerken,
daß er damals wesentlich den Standpunkt. der größten Güter-
summe vertrat und die Einsicht, daß die Summe des Besten
aller Einzelnen erstrebenswerter sei als jeder ihrer Bestand-
teile, für eine genügende Grundlage hielt, wenn er auch
die Mill'sche Begründung dieses Satzes als einen Felilschluß
erkannte. Die Übertragung des Unterschiedes zwischen
blinden und einsichtigen Urteilen auf das emotionelle Leben,
die Formulierung des Begriffes eines „als richtig charakteri-
sierten Liebens und Hassens", auch eines so charakterisierten
Vorziehens, das uns unter anderem das Summierungsprinzip
gewährleistet, ist erst ein Ergebnis der Wiener Zeit.
6. Unsere Begegnungen und Beziehungen nach 1873.
Wann und wo wir uns im späteren Leben wieder-
gesehen haben, läßt sich leider in kurzen Worten angeben.
Im Sommer 1874 kam Brentano nach Schluß seiner Wiener
Vorlesungen nach Franken zurück. Da er Würzburg zu ver-
meiden wünschte, trafen wir uns in einer Station vorher,
Rottendorf. Er war stark ermüdet und angegriffen von dem
Wiener Sommerklima und klagte über die staubige Luft.
Mit dem Lehrerfolg war er zufrieden. Wir waren dann im
September zwei Wochen in dem belgischen Seebade Heyst
und weitere zwei Wochen in Klausen bei Luxemburg als
Gäste seines Schwagers Theophil Funck-Brentano (sixiter
in Paris) zusammen. Nach Heyst hatte er mir Teile seiner
Vorlesiingshefte über Logik und Psychologie mitgebracht.
Funck-Brentano war ein allgemeingebildeter, auch philo-
138
sophisch belesener Mann und eleganter Schriftsteller, die
ganze Familie liebenswürdig und sehr gastfreundlich. 1875
besuchte ich Brentano nach der Grazer Naturforscherversamm-
lung Ende September in Wien, Erdbergstraße 19. Er hatte
schon einen angenehmen gesellschaftlichen Verkehr und
führte mich in das Haus des Buchhändlers Gerold ein,
dessen Gattin Rosa gern Schriftsteller und Künstler bei
sich sah. Auch seinen nahen Freund Zumbusch, den Bild-
hauer, der gerade an dem mächtigen Maria Theresia-
Denkmal arbeitete, lernte ich kennen und war in seinem
gemütlichen Hause geladen. 1876 besuchte ich ihn wieder
im September auf acht Tage in Wien in derselben Wohnung ;
dann wieder einige Tage 1879 anläßlich meiner Berufung
nach Prag.
Im Herbst 1889 erfolgte Brentanos Verheiratung. Ich
hatte bereits ein Jahr vorher geheiratet, diesmal also das
Beispiel gegeben. Weihnachten dieses Jahres war das Ehe-
f)aar bei uns in Prag. 1881 war ich zu Ostern acht Tage
in Wien bei Brentano's, Oppolzer Gasse 6, zu Gaste und
konnte mich von seinem Glück, auch von dem großen
gesellschaftlichen Kreise, in dem er lebte, überzeugen.
Mehrere seiner damaligen Schüler lernte icli bei dieser
Gelegenheit kennen, so v. Meinong und Masaryk, der bald
darauf an die neugegründete tschechische Universität in
Prag kam.
Von Prag aus korrespondierte ich zeitweilig viel mit
Brentano über die tonpsychologische Frage der Einheit oder
Mehrheit gleichzeitiger Töne. Er vertrat damals noch den
Standpunkt der Einheitslehre, den ich als mit dem musi-
kalischen Bewußtsein unverträglich verlassen hatte. Ich
darf vermuten, daß seine spätere Anschauung nicht ohne
den Einfluß dieses Briefwechsels entstanden ist.
Der April 1884 brachte ein kurzes Wiedersehen, als
Brentano auf einer Reise nach Paris Prag berührte. Daß ich
im Herbste dieses Jahres dem Rufe nach Halle folgte, war
139
nicht im Sinne Brentanos. Er fand darin eine gewisse Un-
dankbarkeit gegen Österreich, wo ich von der Regierung
gut behandelt worden sei. Ich glaubte indessen auch meine
Pflichten gegen den Staat redlich erfüllt zu haben und war
von dem Leben in Prag physisch und psychisch so mit-
genommen, daß ich die Rückkehr in geordnete und ruhige
Verhältnisse als eine Erlösung begrüßte. Man hatte eben doch
in Wien ebenso wie bei uns im Reiche damals keine rechte
Vorstellung, wie den Deutschen in Prag zumute war. Auch
kann ich nicht leugnen, daß mir gerade die Berufung an
die Universität Halle- Wittenberg, deren Statuten nicht-
protestantische Lehrkräfte prinzipiell ausschließen, nach
früheren Erfahrungen, über die ich hier schweigen will,
eine besondere Genugtuung und Freude bereitete.
1885 suchte ich Brentano in St. Gilgen auf. Das waren
Tage angeregten freundschaftlichen Zusammenseins mit
ihm und der lebensfrohen Frau in schöner Umgebung.
Zu seinem dortigen Umgange gehörten sein Schüler Fr. Hille-
brand, der Physiologe v. Fleischl und der Psychiater Meynert.
Im Herbst 1886 kam, von Brentano empfohlen, Husserl
behufs Habilitation nach Halle und wurde mein Hörer
und Freimd. Nachdem ich 1888 nach München über-
gesiedelt war, sahen wir dort im Frühjahr 1891 Brentano
und Frau auf einige Zeit, dann trat wieder eine große Pause
ein. Ich kam 1894 nach Berlin; in demselben Jahre starb
Frau Brentano. 1896 war ich mit ihm auf dem Münchener
internationalen Psychologenkongreß zusammen, zu dem er
auf mein Bitten einen Vortrag („Zur Lehre von der Emp-
findung") beigesteuert hatte. Er hatte wenig Gesclimack
an solchen Veranstaltungen, bei denen notwendig über
prinzipielle Dinge kurz hinweggegangen werden muß. Daß
meine eigene Einleitimgsrede über Leib und Seele ihm Be-
denken erregte, erfuhr ich erst später. Sie schien ihm nicht
genügend dem Materialismus entgegenzutreten.
Es folgten schwere Arbeitsjahre für mich, aber aucli
140
.laliic, in (k'iun imsci- iiuiij^cs \'<'i-]iält]ns zweimal eine
vorübergehende Trübung erfiilir, besonders 1903. Dies war
die Wirkung der langen |)crsr)nlichen Trennung und der un-
genügenden Korrespondenz! ahigkeit meinerseits. Es hatten
sicli infolge meiner Veröffentlichungen, besonders aber falscher
j)ersönlicher Informationen, die ihm zugekommen waren (er war
darin etwas leichtgläubig) scliwarze Vorstellungen über mein
ganzes inneres und äußeresVerlialtenbei ihm festgesetzt, denen
er in kräftigen Worten Ausdruck gab, und ich konnte nicht
anders als kräftig erwidern. Aber der erste Augenblick des
Wiedersehens, der erste Händedruck auf dem Bahnhofe in
Melk verscheuchte alle bösen Geister mit einem Schlage,
und wir waren beide do])|)e]t glücklich, uns als die alten
wiederzufinden. Ich bin iü)erzeugt, es wäre anderen ebenso
gegangen, wenn sie sich zu einer persönlichen AVieder-
begegnung hätten entschließen können.
Im September 1905 war ich zum erstenmal acht Tage
sein und seiner zweiten Gattin Gast in Schönbühel, dann
im Herbst 1911 und 1913. Es ist mir jetzt schwer faßbar,
daß 18 .Jahre verstreichen konnten, ehe ich Brentano in
seinem „Neu-Aschaffenburg" aufsuchte. Aber Jahr für Jahr
brachte neue Abhaltungen. An jeden dieser Aufenthalte
kann ich nur mit herzlichstem Dankesgefühl zurückdenken.
Brentano pflegte seine Gäste in Melk abzuholen und mit
ihnen auf dem Dampfschiff die Donau hinunter bis zu dem
Dorfe Schönbühel zu fahren, von wo noch eine Viertelstunde
Weges bis zu seiner Behausung war. Die unablässige Sorg-
falt, mit der Frau Emilie den diirch sein Augenleiden immer
uielij- auf ihre Hilfe angewiesenen Gatten umgab, hinderte
sie nicht, auch für das Wohl ihrer Gäste in musterhafter
Weise besorgt zu sein. P]s war eine Form der Gastlichkeit,
wie man sie sich nicht wohltuender vorstellen kann. Bei
aller Aufmerksamkeit und Fürsor^re herrschte volle Be-
Avegungsfreiheit. Bei gutem Wetter nahm man Frühstück
und „Jause" in dem baumreichen Vorgarten im Anblicke
141
der Donau. Mit Brentano odei- dem Sohne durchstreifte
ich auch die schöne Gegend, und viele philosophische
»Spaziergänge wie in alter Zeit wurden ausgeführt auf dei'
Waldstraße nach Aggsbach oder unten am Donauufer.
Die Gegenstände unserer Unterhaltungen waren vorzugs-
weise die ihn gerade beschäftigenden metaphysischen Fragen
über Raum und Zeit, über den UnendHchkeitsbegriff, speziell
die aktuell-unendlichen Zahlen nach Cantor, die er verwarf,
dann über Kontingenz und Notwendigkeit und die Folge-
rungen füi- den Gottesbegriff, über den Optimismus, die
Laplaceschen und Darwinschen Entwicklungslehren, das
Wahrscheinlichkeitsproblem (u. a. das Bertrandsche Para-
doxon), die sogen. Megethologie, Phänomenologisches, zumal
die Farbentheorie, wie er sie später veröffentlicht hat, und
Psychologisches, wie die Vorstellungslehre, die in der neuen
Auflage der „Klassifikation" veröffenthcht wurde. Den Inhalt
aller dieser Gespräche habe ich aufgezeichnet, muß aber
gestehen, daß es mir in manchen Punkten schwerer als
früher wurde, seinen Entwicklungen zu folgen, da unsere
Gedankenwelt, ja zum Teil selbst unsere Denkgewohnheiten,
sich im Laufe der Jahre doch nach verschiedenen Richtungen
weitergebildet hatten. Und so kam es auch meist nicht zur
Überzeugung der Gegenseite. Aber mir war es von hohem
Wert, wieder einmal seine weitausholende, tiefgründige Art
zu genießen und die Ergebnisse seines nimmermüden Denkens
kennen zu lernen.
Am meisten lag ihm mir gegenüber, seitdem unsere
Wege äußerlich auseinandergegangen waren, daran, die
resignierten und Spinozistischer Auffassung zuneigenden
Gedanken, die sich mir angesichts der unlösbaren Rätsel
des Weltlaufes schon früh aufgedrängt hatten, wieder
seinem unbedingten Optimismus anzunähern. Er blieb darin
dem Leibnizischen Standpunkte treu, den er noch tiefer zu
fassen und zu begründen suchte. P^inmal aber entschied ei-,
man könne die Welt ebenso die schlechtestmögliche wie die
142
bestmögliche nennen, Ha es eben zufolge der absoluten
Notwendigkeitslehre, zu der er sich jetzt bekannte, nur eine
und nur diese geben könne: und darin konnte ich ihm zu-
stimmen. Übrigens war auch sein Gottesbcgriff nicht mehr
der frühere, namentlich gerade darin, daß er die absolute
Notwendigkeit und zugleich eine beständige Umwandlung
Gottes in den Begriff aufnahm. Man konnte vielleicht sagen,
es sei dadurch ein pantheistischer Zug hineingekommen,
wenn er diese Bezeichnung auch wolil nicht selbst zugegeben
hätte. Die Intensität und alles durchdringende AVärme seines
religiösen Fühlens war aber dieselbe geblieben, dasselbe
alte, unbeirrbare Gottvertrauen. Und wenn er in den Nächten
regelmäßig für einige schlaflose Stunden aufstand und auf
dem Balkon, zii seinen Füßen die breitrauschende Donau,
einsamer Meditation sich hingab, dann mag das mystisch
beseligende Gefühl der Gottesnähe ihm auch jetzt als Lohn
lebenslanger, harter und scharfer Gedankenarbeit zuteil ge-
worden sein. Unter seinen hinterlassenen Gedichten ist die
Übersetzung eines englischen Kirchenliedes „Näher zu Dir,
mein Gott'', das die auf dem Titanic 1913 Untergegangenen
vor dem Sinken des Scliiffes gesungen haben sollen. Sicher
gibt er damit seinen eigenen Gefühlen Ausdruck.
Nur mit tiefer Rührung kann wohl jeder, der Brentano
in diesen späteren Jahren gesehen hat, an die abgeklärte
Milde und G üte seines Wesens denken und an die khiglose
Geduld, mit der er die zunehmende Verfinsterung und die
volle Nacht trug, die sein Augenleiden um ihn breitete.
Nur moralische Schlechtigkeit, zumal die Ungerechtigkeit
im Großen, im Verhalten der Völker gegeneinander, wie der
vom Zaune gebrochene tripolitanische Raubzug seines neuen
italienischen Heimatlandes und später dessen Verrat an den
Bundesgenossen, riefen nach wie vor Empörung und schärfste
Verurteilung hervor.
So steht das Bild dieses Mannes vor meinen Augen,
den — mit Aristoteles zu sprechen — „auch nur zu rühmen
143
die Schlechten nicht das Recht haben". Seine Schwächen
hatte auch er, das wissen auch seine Freunde. Wer hätte
sie nicht? Mögen Sillographen von Beruf danach suchen.
Für mich, der ich länger als sie alle ihm vertraut war, ist
keine Frage, daß ihm unter den großen Erscheinungen
unserer Zeit ein Ehrenplatz gebührt.
7. Verhältnis Brentanos zu seinen Schülern,
Anhangsweise möchte ich einige Punkte besprechen, die
sich nicht auf einen bestimmten Zeitabschnitt seines Lebens,
sondern auf sein ganzes Verhalten zu den Schülern imd
seine philosophische Denkweise beziehen, und deren Ein-
fügung in die chronologische Darstellung diese allzusehr
unterbrochen hätte.
Zunächst das Verhältnis Brentanos zu den literarischeu
Arbeiten seiner Schüler. Er ging in deren Unterstützung
außerordentlich weit. Mehr oder weniger ist dies zwar all-
gemeine deutsche Sitte. Wir akademischen Lehrer stellen
unsere Erfahrungen und Ideen den Schülern zur Verfügung,
ohne ängstlich um Eigentumsrechte besorgt zu sein. Dis-
sertationen sind, wenn man dies in Rücksicht zieht, oft
mehr vom Lehrer als vom Schüler gearbeitet, wobei der
Verfasser immer noch versichern kann, sie ohne fremde
Hilfe angefertigt zu haben, da man diese Hilfe nicht rechnet.
Brentano konnte sich aber, wenn ihn ein Thema besonders
interessierte, dermaßen darein vertiefen, daß er dem mit
ihm verkehrenden Schüler die Zügel fast aus der Hand
nahm. Ich erfuhr dies besonders im zweiten Teile meiner
Schrift über die Raumvorstellung, den er, wie erwähnt, im
September 1872 mit mir durchgesprochen hat. Während
der erste schon gedruckt wurde, stand ich bezüglich der
Tiefendimension noch auf empiristischem Standpunkte, was
man dem Buche glückhcher weise nicht anmerkt. Daß ich
in dem folgenden Teil auch dafüi* nativistische Grundlagen
144_ __
annahm, <^osch<'ih unter dem Kinflusse Brentanos. Und so
sind mich wesentliche Einzelheiten in Hinsicht des bin-
okularen Sehens seiner Anregung entsprungen. Freilich war
es wohl ein Nehmen und Geben von beiden Seiten, denn
ich war durch meine Studien tiefer in das physiologische
Gebiet geführt worden. Am ersten Teil, den grundlegenden
Ausführungen über die Flächenvorstellung, war Brentano
imbeteiligt, ausgenommen den allgemeinsten Gedanken der
Untrennbarkeit von Farbe und Ausdehnung, worin er aber
selbst nur ältere Lehren erneuerte.
Aber wie ließe sich darin fortfahren, wo sollte ich über-
haupt anfangen und endigen, wollte ich Brentanos Einfluß
auf mein Denken, meine akademischen Vorträge und lite-
rarischen Produktionen genügend schildern? Meine ganze
Auffassung der Philosophie, der wahren und verkehrten
Methoden des Philosophierens, grundwesentliche Lehren in
Logik und Erkenntnistheorie, Psychologie, Ethik, Metaphysik,
die ich heute noch vertrete, sind seine Lehren. In anderen
Punkten freilich glaubte ich mich von ihm trennen zu
müssen. Oft geschah dies aber auch so langsam, daß mir
die Abweichung selbst verborgen blieb. Im allgemeinen
vermögen Dritte besser solche Eigentumsfragen zu beurteilen,
da man bekanntlich Familienähnlichkeiten leichter bemerkt,
wenn man nicht der Familie angehört. Dies mögen auch
andere Schüler Brentanos in Betracht ziehen, die vielleicht
mehr, als es der Wirklichkeit entspricht, ihre eigenen Schöpfer
zu sein glauben. Doch Aveiß ich, daß wenigstens Husserl,
der sich in seinen späteren Arbeiten sehr weit von Brentanos
Ideen über die Zukunft und das Heil der Philosophie ent-
fernt hat, noch weiter davon entfernt ist, die Kraft und
Fülle der von seinem Lehrer ausgestreuten Keime zu unter-
schätzen.
Ein zweiter Punkt, der hier zu besprechen wäre, betrifft
umgekehrt die Hindernisse der literarischen Produktion der
Schüler infolge der eigenen Zurückhaltung Brentanos in
■ 145
der Veröffentlichung- seiner Untersuchungen. Es ist äußerst
mißKch, sich immer nur auf Vorlesungen oder gar Gespräche
berid'en zu müssen, um dem Lesor die Voraussetzungen,
von denen man ausgeht, zu erklären; nocli mißlicher, vom
Lehrer überkommene Anschauungen, die man niclit mehr
teilen kann, zu bekämpfen, wenn diese Anschauungen nicht
gedruckt vorliegen. AVie leiclit sind da Mißverständnisse und
Ungenauigkeiten möglich! Wie weit geht überhaupt das
Recht, Anschauungen eines anderen zu zitieren, die ihr Ur-
heber nicht selbst ^^eröff entlicht hat, von denen er sich
möglicherweise selbst schon halb oder ganz losgesagt hat?
Jahrelange persönliche Trennung muß notwendig auf beiden
Seiten Umbildungen der Gedankenwelt hervorrufen, die ein
volles gegenseitiges Verstehen erschweren. Und so sind mir,
aber auch ihm, in den Veröffentlichungen der letzten Jahr-
zehnte tatsächhch Mißverständnisse begegnet, die zu Be-
richtigimgen nötigten. Als ältester Schüler habe ich mir im
Bewußtsein, auch im Namen andei-er zn sprechen, des öfteren
erlaubt, den Lelirer briefHch an unsere A\^ünsche in Hinsicht
weiterer, besonders zusammenfassender Veröffentlichungen
zu erinnern. Abei' dei- Drang des Untersuchens und eigenen
Fojtschreitens war in ihm weit stärker als der, sich gedruckt
zu sehen: an sich ein großer Vorzug, dessen Gewicht und
Reiz jeder nachempfinden kann, dem die letzte Feile, die
Nachfüllung literarischer und sachlicher Kleinigkeiten, das
Fertigstellen für den Dinck und das Korrigieren der Druck-
bogen auch keine Freude machen; aber eben eine < Quelle
von Unbequemlichkeiten für die näheren wissenschaftlichen
Freunde und Schüler. Ich bekennt^, (1;iß hierin für mich
eines dei' Motive lag, das Gebiet der '^onps^ chologie und
doi" akustischen Beobachtungen in weitgehendem Maße zu
[)flegen. Konnte icli da doch hoffen, J^)i-auclibares zu leisten,
ohne allzuvieb; nicht ^■or^)l■fentlichte Anschauungen desLolirers,
znstimnKmd odei- ablolmend, heranzuziehen. Ahnlich ging es
Maity mit der S[)rach- und Kraus mit der Rechts})hilosoi)hie.
Kraus, t'ruii/ Bii-iitaiio. 10
^46 •
Xcicli ein drittel' l'iinki (■ndlicli ist zu berüliren: eine
«ijewisse EmpfindJiclikeit Bi-entanos gegenüber Abweichungen,
die er für unbegründet hielt. Er war zwar prinzipiell und
mit vollem Hechte gegen die i^ildung einer anl's Wort
schwörenden „Schule", worin so manche Philosophen das
Hauptziel ihres Ehrgeizes und den Haui)ttitel ihres Ruhmes
erblicken. In der AViener Zeit erzählte er mir einmal, daß
man dort schon anfange, von „Brentanianern" zu sprechen,
und daß iliin dies äußerst widerwärtig sei. Mit Vorliebe
führte er dagegen das Wort des Aristoteles an, Plato sei
iiun Freund, mehr aber Freund die Wahrheit. Und doch:
traten ihm in den A^'eröffentlichungen der Schüler Grund-
anschauungen entgegen, die sich erheblich von den seinigen
entfernten, ohne daß sie an Ort und Stelle eingehend gerecht-
fertigt und verteidigt wurden, so war er geneigt, sie zunächst
für unmotivierte, willkürliche Aufstellungen zu halten, ob-
gleich sie möglicherweise durch lange Jahre nach Kräften
geprüft, manchmal Avohl auch unmerkhch herangereift waren,
ohne daß man sich dessen ausdrücklich bewußt geworden
war. Gelegentliche Verstimmungen waren infolgedessen un-
ausbleiblich, wie sie ja zwischen Lehrern und Schülern auch
anderwärts, ich denke z. B. an das spätere Verhältnis Müllen-
hoffs zu Wilhelm Scherer, nicht fehlen. Aber bei offener
Aussprache und unverbrüchlichem Festhalten an den letzten
(Jrundlagen der Freundschaft konnten sie zu längerem oder
bleibenden) Zerwürfnis nicht führen.
S. Brentanos deduktive Gedankenrichtung und sein
Gegensatz zur Spekulation.
Brentanos größter Vorzug als Denker war die äußerste
Konsequenz und das weitblickende Überschauen der Gedanken-
linien nach oben imd unten, der Voraussetzungen wie der
Folgen ; ich möchte sagen : das Denken in der vertikalen Linie.
Erfahrung galt ihm als die Grundlage der Philosopliie ;
aber wir wissen ja, daß P]rfahrungswissenschaften der De-
_^ 147
diiktion nicht entbeliren können imd in immer \^■eitel•em
Umfange deduktiv werden, je Aveiter sie fortschreiten. Seine
Stärke lag nun gerade in dem deduktiven Teil der Methode,
in der Konzeption allgemeinster Gesichtspunkte und der
Ableitung aller daraus fließenden Folgerungen für die
Deutung der Erscheinungen. Das war es auch, was ihn vor
allem interessierte und fesselte. Man sieht dies am deut-
lichsten in dem Buch über sinnespsychologische Fragen, wo
ihn das „Gesetz der Undurchdringiichkeit'' zu sehr kühnen,
wenn auch gewiß nicht unmöglichen Deutungen der Wahr-
nehmungstatsachen führt. Diese seine eminent deduktiv©
Veranlagung ermöglichte es ihm, ganz entfernte Kon-
sequenzen einer Aufstellung rasch zu übersehen und bei
Diskussionen Widersprüche mit anderen Anschauungen des
Gegners, die diesem selbst noch entgingen, sofort zu er-
kennen.
Demgegenüber gibt es aber auch ein mehi' horizontal
gerichtetes Denken, eine vorherrschende Neigung, der Breite
des Tatsächlichen und seinen mannigfachen Unterschieden
gerecht zu werden, auf die Gefahr hin, daß sich zwischen
den einzelnen Tatsachengebieten verschiedene Gesetzlich-
keiten herausstellen, die zunächst nicht auf gemeinsame
J'rinzipien zurückgeführt werden können, ja sich sogar
widersprechen. So geht vielfach der Naturforscher vor, wenn
er, wie Lotze einmal humoristisch rühmt, „mit logisch nicht
ganz rein gewaschenen Tatzen und plum[) zugreifend die
Kerne der Erkenntnis aus den stachlichen Hülsen der Tat-
sachen (juetscht". Wird nun die Philosophie als Erfahrungs-
wissenschaft betrieben, und tritt ein Teil von ihr, die Psycho-
logie, in immer engere Fühlung mit den Naturwissenschaften,
so ist auch hier eine besondere Behandlimg einzelner Gebiete
nicht zu vermeiden, und es können sich dabei Gesetzlich-
keiten herausstellen, die zunächst unvennubar scheinen.
Kein Zweifel, daß die A'crtikale zuk^tzt siegen muß,
und (laß diese Denkriclitung, die alles widerspruchslos auf
10*
1 IS
;^i'iii('iiis;uii<' <^n»ti(.- I 'ii])/,i|)icii /iii-ii(,'l<zufüliron strel)t, pliilo-
s(i|ilii.s(lie (leister in erster Linie Icennzeichnet. Kinlieitlicli-
Ueir, Strenge und Fol<^erichti<;^keit des Denkens sind in der
Philosopliie nicht minder wie in der .Mathematik Bedingungen
wahrhafter rrnWje. Die (lefahr ist nur, früher zu unifonnieren,
als es die unvollkcmnnenc Kenntnis der Einzelheiten gestattet.
Auch Brentano hatte darin die i'^eliler seiner Vorzüge ; z. !>.
eine gewisse Neigung, bei Diskussionen dem GeAvicht der
Gründe nocli dnrch Anah)gien nachzulielfen, die einen
kritisclien (Tegnei- eJiei- mißtrauisch machen konnten. Aber
w enn auch niclit alle A(jn ihm formulierten Begriffe und
Aufstellungen in dieser Fassung sich dauernd halten lassen:
jeder scharf lunrissene, tief dmc^hdachte Bauplan großer
Architekten bleibt wertvoll für die Nachwelt.
Hill iinM-rsrilinlicher Gegensatz bleibt nur zwischen
seiner Denkweise und der der spekulativen SA'steme der
deutschen Philosophie und früherer Zeiten ähnlichen Cha-
rakters, die er wohl auch unter dem Namen des philo-
sophischen Mystizismus zusammenfaßte. Ihr großes Wollen
hat Brentano so wenig wie die hohe Begabung ihrer Ur-
heber verkannt, und einen wesentlichen Zug teilt er sogar
mit ihnen: die imablässige Richtung auf die höchsten und •
letzten Dinge. Aber für ihn gibt es ijegriffe nur auf Grund der
Anschauung imd ist volle Klarheit das erste und unbedingte
Erfordernis. Hier liegt ein unüberbrückbarer Gegensatz. In
der- Abkehr von den Anschauungen, von der geduldig immer
wieder erneuerten Analyse des Gegebenen, liegt die Wurzel
jener vieldeutigen Verwaschenheit der J^egriffe, die wir an
den sogenannten idealistischen Systemen beklagen, und die
weit verwerflicher ist als die klaren Widersprüclie, die
zwischen verschicsdenen Erfahrungspebieten zeitweilii: auf-
tauchen und durch neue noch präzisere Aufstellungen be-
seitigt werden. Hier gibt es keine Wald: entweder die Philo-
sophie muß auf den Nanum einer Wissenschaft verzichten,
oder .sie gewinnt und belegt ihre Begriffe durch gewissenhafte
149
Zergliederung des Einzelnen. Hiei' gibt es auch kein Zurück,
weder zu Hegel noch zu Kant, sondern muß diu'chaus wieder
^•on unten auf gebaut A\"erden. Diesen Weg liat Brentano
lieschritten, und ich kann nicht umhin, ihm hierin wie
ehemals aus voller Überzeugung beizustimmen. Freilich ist
die Klarlieit der Begriffe durch den Ausgang von der Er-
l'ahnmg auch nicht ohne weiteres gewährleistet, wie berühmte
IJeispiele pliilosophierender oder zur Philosopliie über-
gegangener Natui"forscher beweisen. Aber das Prinzip darf
nicht in Frage gestellt werden. Immer wieder bewährt sich
ßacons goldener Satz, daß die Wahrheit eher aus der Falscli-
lieit hervorgehe als aus der Konfusion. Die Luft ist scharf
und schneidend um uns her, imd es nützt nichts, sich zu
verweicldichen; auch tut man nicht gut, sich kunstvoll ein-
zunebeln, wenn man selbst freie Sicht behalten will.
Die aufs Sorgfältigste durchdachten Leliren Franz
l>j-entanos sind einer gleich sorgfältigen Erwägung der
Xachfahren weit. Aber mehr noch als in allen sachhchen
Ergebnissen seiner Forschimg erblicke ich in diesen metho-
dischen Forderungen sein Vermächtnis an die kommenden
Geschlechter deutsche)" Philosophen.
ANHANG II:
ERINNERUNGEN AN FRANZ BRENTANO
VON
EDMUND HUSSERL
Ich hatte nur zwei Jahre das (iliick, Brentanos \or-
lesnnt;en zn hören. Vollständige Semester Avareu davcm nur
die A\'intersemester 1884/85 und 1885/86. Beide Male las er
fünfstündig über ,,i)raktische Philosophie" und dazu neben
dvn |»hil<)so[)hischen Übungen noch ein- oder z^^■eistündig
über ausgewählte i)hilosophische Fragen. In den ent-
sprec-lienden Sonimersemestern gab er Fortsetzungen dieser
ausschließlicli für Fortgeschrittene bestimmten kleineren
•Kollegien, schloß abei- schon in der ersten Juniwoche.
Unter dem Titel „Die elementare Logik und die in ihr
nötigen liefonnen" behandelte das erste dieser Kollegien
systematisch verknüpfte Grundstücke einer deskriptiven
]^sychologie des Intellekts, wobei aber auch den Parallelen
in der Gemütssphäre in einem eigenen Kapitel nachgegangen
wurde. Das andere über „Ausgewählte psychologische und
ästhetische Fragen" bot in der Hauptsache deskriptive
Fundamentalanalysen über das Wesen der Phantasievor-
stellungen. Etwa Mitte Juni ging er an den von ihm
damals so sehr geliebten Wolfgangsee, und dahin (nach
St. Gilgen) begleitete ich ihn auf seine freundliche Auf-
forderung. Kben in diesen Sommermonaten, in denen es
mir jederzeit freistand, sein gastliches Haus zu besuchen
und an seinen kleinen Spaziergängen und Bootsfahrten teil-
zunehmen (auch an dem einzigen größeren Ausflug der
beiden Jahre), durfte ich ihm ein wenig nähertreten, soweit
es der oroße Unterschied des Alters und der Keife zidieß.
O
Ich hatte damals gerade meine UniA'ersitätsstudien absolviert
und war in der Philosophie (meinem Nebenfach im mathe-
matischen Doktor) noch Anfänger.
In einer Zeit des Anschwellens meiner philosophischen
Interessen und des Schwankens, ob ich bei der Mathematik
als Lebensberuf bleiben oder mich ganz der Philosophie
widmen sollte, gaben Brentanos Vorlesungen den Ausschlag.
Ich besuchte sie zuerst aus bloßer Neugierde, um einmal
den Mann zu hören, der im dairuiligen Wien soviel von sich
1 54
icilcii iiiiicliif. il<'i- \-()n den fin(.'ii aiiFs höchste verehi-t iiud
l)c\suii(l<Tt, von (h-i) aiidcrii (und nicht i;aii/. wnnii^en) als
vcrkapptt-r Jesuit, als Schünrodnür, als Faiseur, Sopliist,
Sciiolastikcr grscholten wurde. Von dem ersten Kindnick
war ich nicht wenii^ betroffen. Diese hagere Gestalt mit
dem mächtigen, von lockigen Haar umrahmten Hau[jt, (h;i-
enei-gischen, kühn geschwungenen Nase, den ausdrucksvollen
Gesichtslinien, die nicht nur von Geistesarbeit, sondern von
tiefen Seelenkämpfen sprachen, fiel ganz, aus (hin liahmen
des gemeinen Lebens heraus. In jedem Zug, in jeder Be-
wegung, in dem aufwärts- und innengewandten Blick der
seelenvollen Augen, in der ganzen Art sich zu geb^n, drückte
sich das Bewußtsein einer großen Mission aus. Die S[)raclie
der Vorlesungen, vollendet in der Form, frei von allen künst-
lichen Wendungen, von allem geistreichen Aufputz, aller
rhetorischen Phrase, war doch nichts weniger als die der
nüchternen Avissenschaftlichen Rede. Sie hatte durchaus einen
gehobenen und künstlerischen Stil, der dieser Persönlichkeit
den ihr völlip- gemäßen und natürlichen Ausdruck bot. Wenn
VA- so sprach, in dem eigentümlich weichen, halblauten, vei-
schleierten Ton, die Rede mit priesterlichen Gesten beglei-
tend, stand er wie ein Seher ewiger Wahrheiten und M^ie
ein Künder einer überhimmlischen Welt \ or dein jugend-
lichen Studenten.
Xiclit lange wehrte ich mich, ti'ot/ aller \'orurteile,
gegen die Macht dieser Persönlichkeit-. Bald packten )xiich
die Sachen, bald war ich von der ganz einzigen Klarheit
und dialektischen Schärfe seiner Ausführimgen, von der so-
zusagen katalei)tischen Kraft seiner T^-oblementwicklungen
und Theorien bezwungen. Zuerst aus seinen Vorlesungen
schijpfte icli die Überzeugung, die mir den Mut gab, die
Philosophie als Lebensberuf zu Avählen, nämlich, daß auch
Philosoy)hie ein Feld ernstei- Arbeit sei, daß aueli sie im
Geiste strengster Wissejischaft behandelt werden könne und
somit auch müsse. Die reine Sachlichkeit, mit der er allen
155
Problemen zu Leibe ging, ihre Behandlungsweise nach
Aporien, die feine, dialektische Abwägung der verschiedenen
möglichen Argumente, die Scheidung von Äquivokationen,
die Zurückführung aller philosophischen Begriffe auf ihre
Urquellen in der Anschauung — all das erfüllte mich
mit Bewunderung und mit sicherem Vertrauen. Der Ton
heiligen Ernstes und reinster Sachhingegebenheit verbot ihm
im Vortrag alle bilHgen Kathederwitze und Scherze. Er ver-
mied selbst jede Art geistreicher Antithesen, deren sprachliche
Zuspitzimg mit gewaltsamen gedanklichen Vereinfachungen
erkauft zu sein pflegt. Im freien Gespräch und bei guter
Laune war er darum doch höchst geistreich und konnte von
Witz und Humor übersprudeln. Am eindringlichsten war
seine Wirksamkeit in den imvergeßHchen philosophischen
Übimgen. (Ich erinnere mich an folgende Themen: Humes
„Essay über den menschlichen Verstand" und „über die Prin-
zipien der Moral" ; Helmholtz' Rede „Die Tatsachen der Wahr-
nehmung"; Dubois-Reymonds „Grenzen des Naturerkennens".)
Brentano Avar Meister in der sokratischen Mäeutik. Wie ver-
stand er durch Fragen und Einwürfe den unsicher tappen-
den Anfänger zu leiten, dem ernst Strebenden Mut einzu-
flößen, unklare Ansätze gefühlter Wahrheit sich in klare Ge-
danken und Einsichten wandeln zu lassen; und andererseits:
wie überlegen konnte er die leeren Schwätzer, ohne je be-
leidigend zu werden, außer Spiel setzen. Nach den Übungen
pflegte er den Referenten und noch drei odei- vier der eif-
rigsten Teilnehmer mit nach Hause zu nehmen, wo Frau
Ida Brentano ein Abendessen vorbereitet hatte. Zu Alltags-
gesprächen kam es dabei nicht. Die Themen der Seminar-
stunde wurden fortgeführt, unermüdlich sprach Brentano
weiter, neue Fragen stellend oder in ganzen V'orträgeu große
Perspektiven eröffnend. Sehr l)ald, sowie das Lsson vorübei-
war, verschwand Frau Ida, die so rührend darum beuuiht
gewesen wai-, den schüchternen Studenten /um freien Zu-
langen zu nötigen, wofür Brentano selbst gar kein Auge hatte.
15«
Minnial sclnicitc /.iirülli;^^ der Itri'iiiinitc Politiker K. \. l'l(;iicr,
ein naher l-'rcuM(l cli-s Hauses, in diese Gesellsdiaft liincin:
iib(;r l^)rentano war nielit abzulenken, an diesem Abend »>e-
li()rte er ganz seinen Sehiilern iincl dem ihn l)eschäf>i<j^enden
Disk'ussionsthema.
I''iii- seine Seliiiler war r>rentan(» leielil zu spreelien.
(lern Jufl er dann zu einem ^gemeinsamen S])aziergang ein,
auf dem er vorgelegter philosojjliische h'ragen gänzlich iin-
iMiirt duicli den Straßenlärm ilcv (^roßstadt beantwortete.
In auf()|)rerungsvoller Weise nahm er sich seiner Schüler
aber nicht nur in wissenschaftlichen sondern auch in ])ersön-
lichen Nöten an und ward ihr gütigster Berater und Erzieher.
Zu denen, die er als seine vei'läßliclien Freunde ansah, spi'ach
er sieli auch über seine j)oIitischen und religiösen TbiM-zeu-
gungen und über seine j)ersönlichen Schicksale aus. Der
Tagespolitik blieb er fern, aber eine Herzenssache war ihm
die großdeutsche Idee im Sinn der alten süddeutschen An-
scha\ningen, in denen er erwachsen war und an denen er,
wie an seiner Antipathie gegen Preußen, dauernd festhielt.
In dieser J^eziehung konnte ich mit ihm nie einig werden.
Die j)reußische Ait war ihm offenbar nie in bedeutenden
persönlichen und m den wertvollen sozialen Ausprägungen
anscliaulich geworden, während ich selbst, darin glücklicher,
sie in hohem Maße schätzen gelernt hatte. Uementsju-echend
fehlte ihm aiu'h jode Em[)fänglichkeit für die eigentümliche
Größe dei- [ireuüischen Geschichte. Ahnlich verhielt es sich mit
dem Pi-otestantismus, dem ei-sich mitdem Anstritt ausder katho-
lischen Kirche keineswegs angenähert hat. Vom katholischen
Dogma hatte er sich als Philosojih befreit; eine Beziehung
zum Ideenkieis des Protestantismus sj)ielt(; dabei keine Rolle,
und nachfühlendes historisch-politisches Verstehen und daraus
entsj)iingende Schätzung historischer "Werte lag hier und
wohl auch sonst nicht in P)rentanos Art. \'om Katholizismus
selbst hörte i(;li ihn nie anders als im Ton großer Hoch-
achtung sprechen. Die durch diesen in die Breite wirken-
157
den religiös-ethischen Kräfte verteidigte er geleg<.Mitlich mit
Lebendigkeit gegen vmverständige geringschätzige Eeden.
In philosophischer Beziehung verband ihn übrigens mit der
alten Kirche die theistische Weltanschauung, die ihm so
sehr ans Herz ging, daß ev auf Gottes- und Unsterblichkeits-
fragen gern zu sprechen kam. Sein zweistündiges Kollog
über Gottesbeweise (ein Stück des größeren Kollegs über
Metaphysik, das er in früheren Jahren wie in Wiirzburg
so auch in Wien gelesen hatte) war mit grr)ßter Sorgfalt
durchdacht, und an den einschlägigen Problemen begann
er, grade als ich vonA\'ien fortging, von neuem zu arbeiten.
Sie folgten ihm, wie ich weiß, bis in sein spätestes Alter.
Vornehmlich beschäftigten ihn aber in diesen Jahren
teils jene deskriptiv-psychologischen Fragen, die das Thema
der oben genannten Vorlesungen waren, teils die sinnes-
psvchologischen Untersuchungen, die erst vor wenigen Jahren
veröffenthcht wurden und deren Inhalt mir aus Wiener und
St. Gilgener Gesprächen (wenigstens den Hauptlinien nach)
in Erinnerung blieb. In den Vorlesungen über elementare
Logik behandelte er besonders ausführlich und offenbar in
schöpferischer Neugestaltung die deskriptive Psychologie der
Coutinvia mit eingehender Rücksichtnahme auf Bolzanos
„Paradoxien des Unendlichen" ; desgleichen die Unterschiede
der „anschaulichen und unanschaulichen", „khiren und un-
klaren", „deutlichen und undeiUlichen", „eigentlichen und
uneigentlichen", „konkreten und abstrakten" Vorstellungen,
und machte im anschließenden Sommer den Versuch einer radi-
kalen DurcliCorschung aller hinter den traditionellen Urteils-
unto'scheirlungen liegentlcn deskriptiven, im immanenten
\\'fsen des Urteils selbst aufweisbaren IMomente, Intensiv
beschäftigten ihn unmittelbar daran I" (und als Tliema in
einem eigenen KoJIeg, wie schon ol)en erwähnt) dcskiiptive
Probleme der Phantasie, und zwar besonders das X'erhältnis
von Phantasievorst(dlung und W'ahrnehmungsvorstelluug.
Diese Vorlesungen waren ganz besonders anregend, weil sie
ir)S
die Probleme im Fluß rler T'ntorsucliun<2; zeigten, wälirend
Vorlcsimgen wie die ülx r ])raktische Philosophie (oder auch
über Jjogik und Metaj)hysik, v(m denen ich knappe Nach-
schrift<!ii Ixmützen konnte) trotz der kritisch-dialektischen
Darstellung — in gcAvissem Sinne — dogmatischen Charakter
hatten, d. h. den Eindruck fest erreichter Wahrheiten und
enduidti<>er Theorien erweckten und erwecken sollten. In
d(^r Tat als Schöpfer einer philosophia perennis fühlte
sich r)rentano durchaus, so war immer mein Eindruck
damals und später. Der Methode völlig sicher und be-
ständig bestrebt, höchsten Anforderungen einer gleichsam
mathematischen Strenge zu genügen, glaubte er in seinen
scharf geschliffenen Begriffen, in seinen festgefügten und
systematisch geordneten Theorien und in seiner allseitigen
aporetischen Widerlegung gegnerischer Auffassungen die
befriedigende Wahrheit gewonnen zu haben. Freilich, wie
entschieden er auch für seine Lehren eintrat, er hielt nicht,
wie ich langehin glaubte, starr an ihnen fest. vSo manche
der Liebhngsthesen jüngerer Jahre hat er später wieder auf-
gegeben. Er ist nie stehen geblieben. Aber tief eindringend
und oft genial in der intuitiven Analyse, ging er doch relativ
schnell von der Intuition zur Theorie über: zur Festlegung
scharfer Begriffe, ziu* theoretischen Fonimlierung dei- Arbeits-
])robleme, zur Konstruktion eines systematischen Inbegriffes
der Lösungsmöglichkeiten, zwischen denen durch Kritik die
Auswahl zu treffen sei. So hatte er, wenn ich seine philo-
so]>hische Art richtig beurteile, in jeder Phase seiner
Entwicklung in gleicher Weise seine festgeschlossenen
Theorien, armiert mit einer Phalanx durchdachter Argumente,
mit denen er sich allen fremden Lehren gewachsen fühlen
konnte. Für Denker wie Kant und die nachkantischen deut-
schen Idealisten, bei denen die Werte ursprünglicher In-
tuition und vorschauender Ahnung so ungleich höher stehen
als diejenigen der logischen Methode und der wissenschaft-
lichen Theorie, hatte er wenig Schätzung. Daß ein philo-
159
sophischer Denker als gi-oß eingeschätzt werden könne,
auch wenn alle seine Theorien streng genommen unA\issen-
schaftlich sind, und sogar seine Grundbegriffe an ,Jvlarheit
und Deutlichkeit" fast alles zu wünschen übrig lassen; daß
seine Größe statt in der logischen Vollkommenheit seiner
Theorien auch liegen könne in der Originalität höchst bedeut-
samer, obschon vager, ^yemg geklärter Grundanschauungen,
und damit eins in vorlogischen auf den Logos allererst
hindrängenden Zielstrebigkeiten — kurzum in völlig neu-
artigen und für die Ziele aller philosopliischen Arbeit letzt-
entscheidenden Denkmotiven, die noch fern sind, sich in
theoretisch strengen Einsichten auszuwirken: das hätte
Brentano kaum zugestanden. Er, der so ganz dem herben
Ideal strengster philosophischer Wissenschaft hingegeben
war (das sich ihm in der exakten Naturwissenschaft re-
präsentierte), sah die Systeme des deutschen Idealismus nur
unter dem Gesichtspunkt der Entartimg. In meinen An-
fängen von Brentano ganz geleitet, kam ich selbst erst
spät zu der Überzeugung, die in der Gegenwart so manche
der auf eine streng wissenschaftliche Philosophie bedachten
Forscher teilen: daß die idealistischen Systeme — im Grunde
nicht anders wie alle vorangegangenen Philosophien der von
Descartes inaugurierten Epoche — vielmehr unter dem Ge-
sichtspunkt einer jugendlichen Unreife angesehen und dann
aber auch aufs Höchste gewertet w-erden müssen. Mochten
Kant und die weiteren deutschen Idealisten für eine wissen-
schaftlich strenge Verarbeitung der sie machtvoll bewegenden
Problemmotive auch wenig Befriedigendes und Haltbares
bieten: die diese Motive wirklich nachzuverstehen und sich
in ihren intuitiven Gehalt einzuleben vermögen, sind dessen
sicher, daß in den idealistischen Systemen xüWig neue und
die allerradikalsten Problemdimensionen der I'hilosophie
zutage drängen, und daß erst mit ihrer Klärung und mit
der Ausbildung der durch ihre Eigenart geforderten Methode
der Philosophie ihre letzten und höchsten Ziele sich eröffnen.
ICO ,
Sil sehr ül)i-i<jj<'ns r)i'<'ntaii()s vofzüs^lichr iiml bcwiin-
(IcMiiinswünliuje Stär]<i' in (U'v logischen Tli(:(jretisierunt^
lau, ^" IxTulit«' die aul.M'r()r(li'n1 llilrc und noch lange
iiiclit al)i;csclil()sscnf Wirkung suiiicr (;igfnen Philosophie
l(M/.t('n Kndes doch darauf, dalJ er selbst, als originaler
Denker, aus ursprünglichen (Quellen der Intuition schöpfte,
nnd so der unproduktiv gOAVordenen deutschen Philosophie
(\r\- TOei' Jahre neue IvcMinkräftige Motive zuführte. Wie
weit seine Methoden und Tlicofien sich erhalten werden,
ist hier nicht zu entscheiden. Im Nährboden anderer
Geister haben jene Motive jedenfalls einen andern Wuchs
angenommen als in dem seinen, aber damit ihre ursprüng-
liclio k'oimkräftige Lebendigkeit von neuem bewiesen. Aller-
dings nicht zu seinei- Freude, da er, wie gesagt, seiner
Philosophie sicher war. In der Tat, sein Selbstvertrauen war
vollkoninien. Die innere (lewißheit, auf dem rechten Wege
zu sein und die allein wissenschaftliche Philosopliie zu be-
gründen, war ohne jedes Schwanken. Diese Plu]oso[)hie
innerhalb dei* systematischen Grundlehren, die ilnu schon
als gesichert galten, näher auszugestalten, dazu fühlte er
sich von innen und von oben her berufen. Ich möchte diese
schlechthin zweifelsfreie Überzeugung von seiner Mission
gei-adezu als die [^rtatsache seines Thebens bezeichnen. Ohne
sie kann man Brentanos Persönlichkeit nicht verstehen und
daher auch nicht billig beurteilen.
So i)egreift sicli A^or allem, dal.) ihm so viel an einer
ti''l'(lringenden Lehrwirksamkeit, ja in einem guten Sinne
an einer Schule gelegen war: niclit nur zui- Verbreitung der
errungenen Einsichten, sondei'n auch zur Fortarbeit an seinen
Gedanken. Freilich war er gegen jede Abweichung von den
ihm feststehenden Überzeugungen empfindlich, bei dies-
bezüglichen Einwänden wurde er lel)liaft, bliel) etwas starr
bei den längst abgewogenen FormuHerungen und aporetischen
Pegründungen und behau[)tete sich siegreich dank seiner
meisterhaften Dialektik, die doch, wo der Einwendende auf
161
entgegenstehenden ursprünglichen Anschauungen fußte, Un-
befriedigung zurücklassen konnte. Niemand erzog mehr zu
selbsttätig freiem Denken, vertrug es aber auch schwerer,
wenn es sich gegen seine eigenen festeingewurzelten IJber-
zeuofungen richtete.
Mit der Überzeugung, Bahnbrecher einer neuen Philo-
sophie zu sein, hing zweifellos der große (und für mich
damals wenig verständliche) Wert zusammen, den Brentano
auf die Wiedererlangung seiner ordentlichen Professur in
Wien legte. Viel sprach er von den Hoffnungen, die ihm
stets von neuem eröffnet, von den Versprechungen, die ihm
gemacht und die nie gehalten wurden. Es war für ihn eben
schwer erträglich, nicht mein Doktorarbeiten leiten und in
der Fakultät vertreten zu können, und erst recht, passiv der
Habilitation ihm wenig genehmer Privatdozenten zusehen zu
müssen. Mit Bitterkeit sprach er sich oft darüber aus. Seine
Lehrtätigkeit litt freilich unter diesen Verhältnissen nicht (ab-
gesehen von der freiwilligen Einschränkung seiner Sommer-
vorlesungen), nach wie vor übte er nicht nur in Wien,
sondern in ganz Österreich den bestimmenden Einfluß.
Seine schöne, ja klassisch vollendete Vorlesung über prak-
tische Philosophie wurde jeden Winter von Hunderten Juristen
der ersten Semester und Hörern aller Fakultäten besucht —
allerdings schrumpfte die große Zahl nach einigen AVochen
sehr zusammen, da die regelmäßige Mitarbeit, die hier er-
forderlich war, nicht jedermanns Sache sein konnte. Aus
dieser Vorlesung kamen übrigens immer wieder begabte
junge Leute in seine Übungen und bezeugten, daß seine
Mühen Avohl angewendet gewesen waren.
Viel klagte er in diesen Jahren über seine schwachen
Nerven, auch in St. Gilgen, das ihnen Stärkung bringen
sollte. Seine Erholung von intensiver Geistesarbeit suchte
er allzeit in andern nicht minder intensiven, mit nicht min-
derem Eifer vollzogenen Betätigungen. Er galt im Wiener
Schachklub als ein besonders geistreicher Schachspieler (zu
Kraus, Franz Brentano. 11
162 ______^_______
geistreich, sagte man inii-, und zu sclir auf Verfolgung eines
leitenden Gedankens gerichtet, nni oft siegreich sein zu
können) und konnte zeitweise ganz in leidenschaftlichem
Spiel aufgellen. Zu andern Zeiten machte er Schnitzarbeiten
oder malte und zeichnete, immer dem, was er tat, leiden-
schaftlich hingegeben. Irgendwie selbsttätig sein, mußte er
eben immer. Auf der gemeinsamen Reise nach St. Gilgen
zog er bald sein praktisches selbstgesclinitztes Schachspiel
heraus, und nun wurde die ganze lange Fahrt hindurch
eifrig gespielt. Jn St. Gilgen beteihgte er sich gerne an den
Porträtbildern seiner Frau, die eine tüchtige Malerin w'ar,
hinoinbessernd, odei- ihre Bilder im AVerden ganz über-
nehmend: aber freilicli mußte sie dann wieder nachhelfen
und manches wieder gut machen. So hat er mich im Jahre
1886 gemeinsam mit seiner Frau gemalt: „ein liebens-
würdiges Bild", wie Theodor Vischer, der feinsinnige
Kimsthistoriker, urteilte. Mit eben demselben Eifer betrieb
&r in St. Gilgen nachmittags das Boggiaspiel (im „Garten",
einem Stückchen Wiese hinter dem gemieteten Häuschen
nahe am See). Für Bergtouren war er gar nicht eingenommen,
er liebte nur mäßige Wanderungen. Sehr einfach war in
St. Gilgen, aber auch Wien, seine Lebensweise. Man brauchte
übrigens nicht lange mit ihm bekannt zu sein und seine
Lebensgewohnheiten zu beobachten, um die LächerUchkeit
der umlauienden Rede zu empfinden, daß er seine erste
Frau um ihres Reichtums willen geheiratet habe. Für die
Genüsse der Reichen, für Luxus, gutes Essen, üppiges Leben
jeder Art hatte er überhaupt kein Organ. Er rauchte nicht,
aß und trank sehr mäßig, ohne darin irgendwelche Unter-
scliiede zu beachten. Ich, der ich doch oft im Haus bei
Mahlzeiten zugegen war, habe nie eine Äußerung über
Speisen und Getränke von ihm gehört oder bemerkt, daß
er dabei mit besonderer Lust genoß. Als wir einige Zeit
vor seiner Frau in St. Gilgen eintrafen und in einem ziem-
lich schlechten Gasthof essen mußten, da war er der immer
163
Zufriedene, der eben den Unterschied sich gar nicht zum
Bewußtsein brachte, immer mit seinen Gedanken oder den
Gesprächen beschäftigt. Er Heß sich auch nur die ein-
fachsten Speisen geben, wie er auch auf der Bahn, wenn
er allein fuhr, sich mit der niedersten Klasse begnügte. Und
ebenso stand es mit seiner Kleidung, die übereinfach und
oft abgetragen war. In allen diesen Beziehungen sparsam,
soweit eben seine eigene Person in Frage kam, Avar er doch
p-enerös, wo er andern ein Gutes damit tun konnte. In
seinem persönlichen Gehaben gegen Jüngere Avar er einer-,
seits zwar würdevoll, andererseits überaus gütig und lieb-
reich, immerfort um die Förderung ihrer wissenschaftlichen
Bildung, aber auch um ihre ethische Persönlichkeit besorgt.
Man konnte nicht anders, als sich dieser höheren Leitimg
ganz hinzugeben und ihre veredelnde Kraft beständig, auch
wenn man ihm räumlich fern war, zu fühlen. Selbst in seinen
Torlesungen wurde, wer sich ihm einmal gegeben hatte,
nicht nur theoretisch von den Sachen, sondern von dem
reinen Ethos seiner Persönlichkeit aufs tiefste ergriffen.
Und wie konnte er sich selbst persönlich geben! Unvergeß-
lich sind mir die stillen, sommerabendlichen Wanderungen
am WoKgangsee, auf denen er sich oft in freier Aussprache
über sich selbst gehen ließ. Er war von einer kindlichen
Offenheit, wie er denn überhaupt die Kindlichkeit des
Genies hatte.
Ich habe mit Brentano nicht sehr viel Briefe gewechselt.
Auf meinen Brief, in dem ich ihn bat, die Widmung meiner
PJiilosophie der Arithmetik (meiner philosophischen Erst-
lingssc'lirift) anzunehmen, schrieb er mir warm dankend, aber
€rnst abmalinend: ich solle mir nicht den Groll seiner Feinde
auf den Hals laden. Ich widmete -ihm die Schrift dennoch,
erhielt aber auf die Übersendung des Widmungsexemplars
keine weitere Antwort. Erst nach 14 Jahren bemei-kte Bren-
tano überhaupt, daß ich ihm die Schrift wirklich gewidmet
hatte, und dankte nun in herzlich gütigen Worten ; er hatte
11*
164
sie offenbar nicht näher angesehen oder darin nur nach
seiner Art „quer gelesen". Er stand mir natürhch zu hoch,
und ich verstand ihn zu gut, um dadurch empfindlich be-
rührt zu werden.
Daß sich kein reger Briefwechsel entwickelte, hatte
tiefere Gründe. Zu Anfang sein begeisterter Schüler, hörte
ich zwar nie auf, ihn als Lehrer hoch zu verehren, aber
es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu
bleiben. Icli wußte aber, wie sehr es ihn erregte, wenn
man eigene, obschon von den seinen auslaufende Wege ging.
Er konnte dann leicht ungerecht werden und ist es auch
mir gegenüber geworden, und das war schmerzlich. Auch
wird, wer von innen her von ungeklärten und doch über-
mächtigen Gedankenmotiven getrieben ist, oder begrifflich
noch unfaßbaren Anscliauungen genugzutun sucht, mit denen
die gegebenen Theorien nicht stimmen wollen, sich dem in
seinen Theorien beruhigten — und gar einem logischen
Meister wie Brentano — nicht gerne eröffnen. Man hat
genug an der Pein der eigenen Unklarheit und braucht für
sein logisches Unvermögen, das eben die Triebkraft zum.
forschenden Denken ist, keine neuen Beweise und keine
dialektischen Widerlegungen. Was sie voraussetzen, Me-
thoden, Begriffe, Sätze, muß leider verdächtigt und als
zweifelhaft zunächst ausgeschaltet werden, und daß man
nicht klar widerlegen und auch selbst nichts liinreichend
klar und bestimmt aufstellen kann, ist ja gerade das Un-
glück. So war es in meinem Werden, und so erklärt sich
eine gewisse Entfernung, Avenn auch nicht persönliche Ent-
fremdimg von meinem Lehrer, die auch späterhin eine wissen-
schaftliche Fühlungnahme so schwer machte. An ihm fehlte
es, wie ich frei gestehen muß, nie. Er gab sich wiederholt
Mühe, wissenschaftliche Beziehungen wieder anzuknüpfen.
Er fühlte wohl, daß meine große Verehrung für ilm in diesen
Jahrzehnten sich nie vermindert hatte. Im Gegenteil, sie
hat sich nur gesteigert. Ich lernte eben im Fortschreiten
165
meiner Entwicklung die Kraft und den Wert der von ihm
empfangenen Impulse immer höher einschätzen.
Als Privatdozent besuchte ich ilin einmal in den
Sommerferien in Schönbülil an der Donau; er hatte kurz
vorher die „Taverne" gekauft, die nun für Wohnzwecke
umgebaut werden sollte. Unvergeßhch ist mir die Situa-
tion, in der ich ihn vorfand. An das Haus herankommend,
sah ich eine Gruppe Maurer, darunter einen hageren,
langen Mann mit offenem Hemd, kalkbesprengten Bein-
kleidern und Schlapphut, die Kelle ebenso wie die andern
gebrauchend: ein italienischer Arbeiter, wie man sie auf
Straßen und Gassen damals überall sah. Es war Brentano.
Freundlich kam er mir entgegen, zeigte mir seine Entwürfe
zum Umbau, klagte über die unfähigen Baumeister und
Maurer, die ihn genötigt hätten, alles selbst in die Hand
zu nehmen und selbst mitzuarbeiten. Nicht lange und wir
waren mitten in philosophischen Gesprächen, er immer in
diesem Aufzuge.
Ich sah ihn wohl erst im Jahre 1908 in Florenz wieder,
in seiner herrlich gelegenen Wohnung in der Yia Bellos-
guardo. Dieser Tage kann ich nur mit größter Rührung ge-
denken. Wie ergriff es mich, als er, der nahezu Erblindete,
von dem Balkon die unvergleichliche Aussicht auf Florenz
und die Landschaft erklärte oder mich und meine Frau in
die beiden dereinst von Galilei bewohnten Villen auf schön-
sten Wegen führte. In seiner äußern Erscheinung fand ich
ihn eigentlich w^enig verändert, nur die Haare waren er-
graut und das Auge hatte seinen Glanz und früheren
Ausdruck verloren. Und doch, wie viel sprach auch jetzt
aus diesem Auge, welche Verklärung und Gotteshoffnimg.
Natürüch wurde gar viel von Philosophie gesprochen. Auch
das war schmerzHch. Wie ging ihm das Herz auf, wieder
einmal sich [)hilosophisch aussprechen zu können; er, dem
die große Wirkung als Lehrer ein Lebensbedürfnis war,
mußte in Florenz einsam dahinleben, außerstande, dort eine
166
persönliclio A\'irksamkeit zu entfalten, und schon beglückt,
wenn einmal vom Norden jemand kam, der ilm hören und
verstehen konnte. Es war mir in diesen Tagen, als wären
die Jahrzehnte seit meiner "Wiener Studienzeit zu kraftlosem
Traum geworden. Ich fühlte mich ihm, dem Überragenden
und Geistesmächtigen gegenüber wieder wie ein schüchterner
Anfänger. Ich hürte lieber, als daß ich selbst sprach. Und
wie groß, schön gegliedert, und in allen Gliederungen fest
gestaltet, floß seine Rede dahin. Einmal aber wollte er
selbst hören und ließ sich, ohne mich mit Einwendungen
zu unterbrechen, den Sinn der phänomenologischen For-
schungsweise und meines ehemaligen Kampfes gegen den
Psychologismus zusammenhängend berichten. Zu einer Ver-
ständigung kam es nicht. Vielleicht lag ein wenig auch die
Schuld an mir. Mich lähmte die innerliche Überzeugung,
daß er in dem fest gewordenen Stil seiner Betrachtungs-
weise, mit dem festen Gefüge seiner Begriffe und Ai-gu-
mente nicht mehr anpassungsfähig genug sei, um die Not-
Avendigkeit der Umbildungen seiner Grundanschauungen, zu
denen ich mich gedrängt gesehen hatte, nachverstehen zu
können.
Nicht der geringste Mißton trübte diese schönen Tage,
in denen auch seine zweite Gemahlin Emilie uns alle erdenk-
liche Freundlichkeit erwies, sie, die in so wohltuender und
liebevoller "Weise für seine Altersjahre sorgte und sich daher
dem Bilde seines damaligen Lebens aufs schönste einfügte.
Er wollte möglichst viel mit mir zusammen sein, er fülilte
selbst, daß mein Dank für das, was er mir durch seine
Persönlickeit und durch die lebendige Ivi-aft seiner Lehren
gewesen, unauslöschlich war. Er war im Alter noch liebe-
voller und milder geworden, ich fand in ihm nicht den
verbitterten Greis, dem seine erste und zweite Heimat
allzuwenig Förderung hatte angedeihen lassen und seine
großen Gaben mit Undank gelohnt hatte. Immei'fort lebte
er in seiner Ideenwelt und in der Vollendvmg seiner
^ 167
Philosophie, die, Avie er sagte, im Lauf der Jahrzehnte eine
^roße Entwicklung genommen hatte. Es lag über ihm ein
Hauch der Yerklärung, als gehörte er nicht mehr dieser
"Welt an und als lebte er halb und halb schon in jener höheren
Welt, an die er so fest glaubte, und deren philosophische
Deutung in theistischen Theorien ihn auch in dieser späten
Zeit so viel beschäftigte. Das letzte Bild, das ich damals in
Elorenz von ihm gewonnen, hat sich in meine Seele am
tiefsten eingesenkt: so lebt er nun immer fort in mir, ein
Dild aus einer höhern "VVelt.
DIE WICHTIGSTEN DATEN
AUS BRENTANOS LEBEN
16. Januar 1838 geboren zu Marienberg bei Boppard. Im gleichen Jahre
Übersiedlung der Familie nach Aschaffenburg.
26. Oktober 1851 Tod des Vaters.
Herbst 1856 Immatrikulation an der philosophischen Fakultät der
Universität München.
17. Juli 1862 Promotion in Tübingen.
6. August 1864 Priesterweihe.
15. Juli 1866 Habilitation an der philosophischen Fakultät der Uni-
versität Würzburg.
Frühjahr 1870 Innerer Brucli mit der Kirche.
13. Mai 1872 Ernennung zum a.o. Professor in Würzburg.
März 1873 Niederlegung der Professur.
11. April 1873 Formeller Austritt aus der Kirche.
22. Januar 1874 Ernennung zum ordentlichen Professor in Wien.
1880 Verlobung mit Ida Lieben; Niederlegung der Professur; Ehe-
schließung als sächsischer Staatsbürger am 16. September in Leipzig;
Habilitation in Wien als Privatdozent. '
30. September 1882 Tod seiner Mutter Emilie geb. Genger.
1887 Ankauf seines Sommersitzes in. Schönbühel a. D.
1888 Geburt eines Sohnes (Michael Johannes).
18. März 1894 Tod seiner Gattin.
8. April 1895 verläßt er Wien und geht über Zürich und Lausanne
nach Italien.
1896 läßt er sich in Florenz nieder.
1897 Verlobung mit Emilie Eueprecht; Trauung in Florenz am
30. Dezember.
1903 Operation an beiden Augen (Wien).
Mai 1915 Übersiedlung nach Zürich.
17. März 1917 Todestag.
SCHRIFTENVERZEICHNIS
Die seihständig erschienenen Schriften sind mit * bezeichnet
l.*Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach
Aristoteles. Freiburg i. Br. 1862, Herder. (Trendelenburg ge-
widmet.)
2. G-eschichte der mittelalterlichen Philosophie inMöhlers
Kirchengeschichte (herausgegeben von Garns) 2. Bd. S. 328 — 484,
„nach Vorlagen Möhlers**, aber unter Zugrundelegung seiner
eigenen Theorie von den vier Phasen der Philosophie.
3.* Ad Disputationem qua theses .... defendet ... invitat
Franciscus Brentano. 1866.
4.'^' Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine
Lehre vom vov; jioirjziHÖg. Mainz 1867, Kirchheim. (Vergriffen.)
5. August Comte und die positive Philosophie. Ohilianeum.
Blätter für katholische Philosophie, Kunst und Leben. (Neue
Folge 2. Bd.) 1869.
6. Die Erkenntnistheorie des Aristoteles von Dr. Friedrich
Kampe. Zeitschrift für Pliilosophie und philosophische Kritik
59. Bd., ülrici 1872.
7. Psychologie vom empirischen Standpunkt 1. Bd., Leipzig
1874. (Vergriffen.)
8.* Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem
Gebiete. Wien 1874, Braumüller. (Vergriffen.)
9. Herr Horwicz als Rezensent. Ein Beitrag zur Orientierung
über unsere wissenschaftlichen Kulturzustände. Philosophische
Monatshefte 4. Bd., 1875.
10.* Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht. Wien,
Pest und Leipzig 1876, Hartleben.
11.* Neue Rätsel von Aenigmatias. Wien 1879, Gerold. (Vergriffen.)
12.* Über den Creatianismus des Aristoteles. W^ien 1882,
Tempsky. (Vergriffen.)
13.* Offener Brief an Herrn Professor Eduard Zeller aus
Anlaß seiner Schrift über die Lehre des Aristoteles von der
f^wigkeit des Geistes. Leipzig 1883, Duncker & Humblot.
14. Rezension von Miklosichs „Subjektlose Sätze" in der Wiener
Allgemeinen Zeitung v. 18. und 14. November 1883 (wieder ab-
gedruckt in Nr. 15).
15.* Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig 1889, Duncker
& Humblot. Dasselbe in englischer Übersetzung unter dem Titel:
The Origin of thc Knowledge of Right and Wrong (translation
by Cecil Hague). Westminster 1902, Constable.
I'JO SniRIPTÜfKVERZBICHNIS
If).* Das Genie. Vortrag, gehalten im Saale des Ingenieur- und
Archilektcnvcrcins in Wien. Leipzig 18132, Duncker & Humblot.
17.* Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstel-
lung. Vortrag, gciialten in der Gesell.schaft der Literaturfreunde
zu Wien. Leipzig 1S'.J2, Duncker & Humblot.
18.* Über die Zukunft der Philosophie. Wien 1893, Alfred Holder.
19. Über ein optisches Paradoxon. Zeitschrift für Psjchologie
und Phj'siologie der Sinnesorgane (Bd. 3, 1892, und Bd. 5, 1893).
20. Zur Lehre von den optischen Täuschungen. Ebendaselb.st
Bil. 6, 1893. (Über dasselbe Thema erschien ein Artikel von Bren-
tano in der Ilevue scientifique.)
21.* Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblick-
licher Stand. Stuttgart 1895, Cotta.
22.* MeineletztenWünsche für Ost er reich. Stuttgart 1895, Cotta.
23. Vorwort zu A. Herzens Broschüre „Wissenschaft und Sittlichkeit".
1895. Lausanne, Verlag Payot; neu aufgelegt vom Vereine Jugend-
schutz, Berlin 190-i.
24. Zur Lehre von der Empfindung. Dritter internationaler
Kongreß für Psjxhologie in München vom 4. bis 7. August 1896.
München 1897, Lehmann, S. 110 ff. Abgedruckt unter dem Titel:
Ü ber Individuation, multiple Qualität und Intensität
sinnlicher Erscheinungen in Nr. 30.
25.* Zur eherechtlichen Frage in Österreich. Stuttgart 1895,
Cotta.
26.* Krasnopolskis letzter Versuch. Leipzig 1896, in Kommission
bei J.J.Arndt. (Sonderabdruck aus der Wochenschrift „Die Zeit"
v. 17. u. 24. Oktober 1896.)
27.* Neue Verteidigung der spanischen Partie. Wien 1900,
Verlag der Wiener Schachzeitung. Ein zweiter und dritter Artikel
ebendaselbst.
28. „Über voraussetzungslose Forschung". Anonj-m in den
Münchner Neuesten Nachrichten Nr. 573 v. 13. Dezember 1901.
(Ein Epilog zur Diskussion Mommsen — Hertling in Nr. 530, 538, 540.)
29. Von der psychologischen Analyse der Tonqualitäten in
ihre eigentlich ersten Elemente. (Atti del V. Congresso
Internazionale di Psicologia, Roma 1906.) Wieder abgedruckt in
Nr. 30.
30.* Untersuchungen zur Sinnespsychologie. Leipzig 1907,
Duncker & Humblot. (Enthält außer den Abhandlungen Nr. 24
und 29 die Untersuchung „Vom phänomenalen Grün".)
31. Thomas von Aquin (geschrieben am Todestage d. 7. März). Neue
Freie Presse v. 18. Aprü 1908.
Schriftenverzeichnis 171
32* Aenigmatias. Neue Eätsel. Zweite stark vermehrte Auflage,
München 1909, Oskar Beck. (Vergriffen. S.Auflage in Vorbereitung.)
33.* Aristoteles in v. Asters Sammelwerk „Große Denker" 1. Bd.,
1911.
34.* Ar istoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen
Geistes. Leipzig 1911, Veit & Comp.
35.* Aristoteles und seine Weltanschauung. Leipzig 1911^
Quelle & Meyer.
36.* Von der Klassifikation der psychischen Phänomene. Neue^
durch Nachträge stark vermehrte Ausgabe der betreffenden Kapitel
der Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig 1911,
Duncker & Humblot.* Italienische Ausgabe mit einer Vorrede
von M. Puglisi, Lanciano 1913, Carabba.
37. Epikur und der Krieg. Internationale Rundschau 1916, Zürich.
Nachtrag:
Der Atheismus und die "Wissenschaft. Historisch-politische Blätter
f. d. katholische Deutschland 1873. 72. Band S. 852 u. 916.
^ Der Anhang entliält folgende, für die "Weiterentwicklung der
Brentanoschen Psychologie und Erkenntnistheorie überaus bedeutsame
Kapitel :
I. Die psychische Beziehung im L'nterschied von der Eelation im
eigentlichen Sinne.
H. Von der psychischen Beziehung auf etwas als sekundäres Objekte
m. Von den Modis des Vorstellens.
IV. Von der attributiven Vorstellungsverbindung in recto und in.
obliquo.
V. Von der Modifikation der L'rteile und Gemütsbewegungen durch
die Modi des Vorstellens.
\T. Von der Unmöglichkeit, Jeder psychischen Beziehung eine In-
tensität zuzuerkennen und insbesondere die Grade der Über-
zeugung und Bevorzugung als Unterschiede der Intensität zu
fassen .
"VII. Von der Unmöglichkeit, L'rteil und Gemütsbeziehung in einer
Grundklasse zu vereinigen.
"VIII. Von der Unmöglichkeit, für Gefülü und Wille in Analogie zu.
Vorstellung und Urteil verschiedene Grundklassen anzunehmen.
IX. Von wahren und fiktiven Objekten.
X. Von den Versuclien, die Logik zu miathematisieren.
XI. Vom Psychologismus.
Von Professor Dr. Oskar Kraus sind ferner erschienen:
Anton Marty. Sein Leben und seine Werke. Eine
Skizze. Mit einem Bildnis. YIII, 68 S. gr. 8.
Hallo 1916, Max Niemeyer. Ji 1.50
Jeremy Benthams Grundsätze für ein künftiges Völker-
recht und einen dauernden Frieden. (Principles
of international laAv) in erstmaliger deutscher Über-
setzung des Dr. Concile Klatscher. Mit einer
Einleitung über Bentham, Kant und Wundt
herausg. von Dr. Oskar Kraus. YII, 153 S. Max
Niemeyer, Halle. Ji 4.80
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
Februar 1919 wird erscheinen:
Franz Brentano
Aenigmatias. Neue Rätsel
Dritte Auflage Gebunden etwa M 5.—
,Versformen und Rätseltechniken sind nur Hülle des intimer Menschlichen: ohne Ab-
sichtlichkeit oder historische Maskerade erweckt das Büchlein den Geist guter Gesellig-
keit des 18. Jahrhunderts." Münchener Neueste Nachrichten. — „In den zwölf
Bogen des .Aenigmatias' ist kein leeres Blatt, und mit jeder neuen Auflage wird deut-
licher werden, daß sie nach Gehalt und Gestalt eine auf ihrem Gebiete klassische
Leistung sind." Dr. A. Bettelheim (Vossische Zeitung).
Soeben ist erschienen:
Festschrift Johannes Volkelt
zum 70. Geburtstag dargebracht
VII, 428 Seiten Lex. 8° Geheftet M 25.—
Inhalt: Vorwort — Wilhelm Wundt, Die Zeichnungen des Kindes und
die zeichnende Kunst der Naturvölker — JonasCohn, Das Tragische und
die Dialektil< des Handelns — Bruno Bauch, Wahrheit und Richtigkeit
(Ein Beitrag zur Erkenntnislehre) — Albert Köster, Von der kritischen
Dichtkunst zur Hamburgischen Dramaturgie (Ein Kapitel aus größerem Zu-
sammenhang) — Georg Witkowski, Das Tragische als Grundgesetz des
Lebens und der Kunst, im Anschluß an Hebbels Denken und Dichtung —
Hermann Schwarz, Von unanschaulichem Wissen — Walther Schmied-
Kowarzik, Gotteserlebnis und Welterkenntnis — Max Frischeisen-
Köhler, Herbarts Begründung des Realismus — Otto Klemm, Die
Heterogonie der Zwecke — Hermann Schneider, Der Gegenstand der
Metaphysik. Eine einführende Vorlesung — Richard Falckenberg, Über
den Stil unserer Philosophen — Max Dessoir, Philosophie als Lehr-
gegenstand — Ernst Bergmann, Das Leben und die Wunder Johann
Winckelmanns. Eine Studie — Felix Krueger, Die Tiefendimension und
die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens — Wilhelm Wirth, Zur Orien-
tierung der Philosophie am Bewußtseinsbegriff — Friedrich Reinhard
L i p s i u s , Johannes Volkelt als Religionsphilosoph — EduardSpranger,
Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie —
Paul Barth, Dramaturgie und Pädagogik — Hans Volkelt, Biblio-
graphie Johannes Volkelt
C. 11. Bcck'schc Vcrla.^sbuchhandlung Oskar Beck München
Johannes Volkelt
Gewißheit und Wahrheit
Untersuchung der Geltuni^^sfragen als Grundlegung
der Erkenntnistheorie
Soeben erschienen! • Geheftet M 18.50, in Halbfranz gebunden M 25. —
System der Ästhetik
Drei Bände in Leinwand gebunden je 12 Mark
Ästhetik des Tragischen
Dritte, neubearbeitete Auflage In Leinwand gebunden M 12.50
.Nicht bloß der Forschung im engeren Sinn, auch der Kritik und vor allem dem Unter-
richt hat Volkells Werk unschätzbare Dienste geleistet, hat Unzähligen für die feinsten
.■\bschatlungen tragischen Krlebens und Gesialtens die Augen geöffnet und uns klärend
und vertiefend zu den letzten f-ragen hingeleitet." Prof. Dr Rober t Petsch (Neue Jahr-
bücher für das klassische Altertum).
Karl Marbe
Die Gleichförmigkeit in der Welt
Untersuchungen zur Philosophie und positiven Wissenschaft
I. Band. Geheftet M 12.—, gebunden M 13.50
II. Band. Soeben erschienen. Geheftet M 12. —
Nachtrag: Mathematische Bemerkungen zu meinem Buche
„Die Gleichförmigkeit in der Welt". Geheftet M l.—
Qrundzüge der forensischen Psychologie
Vorlesungen gehalten im Auftrag des K. B. Staatsniinisteriums der Justiz
während des ersten bayerischen Fortbildungskurses für höhere Justizbeamte
zu München im Mai 1913
Mit 8 Textabbildungen und einem Vierfarbendruck :: Gebunden M 4. —
Constantin Ritter
Piaton
1. Band: Piatons Leben und Persönlichkeit. Philosophie nach
den Schriften der ersten sprachlichen Periode
In Leinwand gebunden M 9. —
Neue Untersuchungen über Piaton
Geheftet M 12.—, gebunden M 14.—
C. H. Beck'sche Buchdruckerei in Nördlingen
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B
3212
Z7K7
Kraus, Oskar
Franz Brentano
J